Herne. Gedenk- statt Eröffnungsfeier: Im Stadion von Westfalia Herne gedachten Hunderte der auf den WM-Baustellen gestorbenen Gastarbeiter.
In Herne haben Hunderte nicht hingesehen. Sie senkten die Blicke, genau in dem Moment, als am Sonntag die Weltmeisterschaft von Katar angestoßen wurde: auf 6000 schlappe Bälle, so grau wie der Novemberhimmel. Symbole für die im Wüstenstaat gestorbenen Arbeitsmigranten, angeordnet wie ein riesiges Gräberfeld, beleuchtet von 20.000 Grabkerzen im Flutlicht – im Stadion von Westfalia Herne trafen sich Fußball-Fans zur Trauerfeier statt Eröffnungsfeier.
Sie wollen gedenken, sie wollen protestieren, irgendwie zeigen, „das ist nicht meine WM“ oder „nicht mein Fußball“. Gucken würden sie sowieso nicht, sie wollen boykottieren, das halten sie es mit der Band „Westwärts“: „We Say No To Katar, wir sagen nein zu Katar“. Sie sind gekommen aus Wut, aus Enttäuschung, aus Ärger, aus Trauer, und Volker-Johannes Trieb gibt ihnen den (Fußball-)Platz dafür im wörtlichen Sinne: Der Künstler aus Osnabrück hat die Bälle nähen lassen, „sozial und ökologisch zertifiziert in Polen“, je einen für jeden offiziell belegten Toten auf den Stadion-Baustellen von Katar. Wahrscheinlich sind dort mehr gestorben, es kursieren fünfstellige Zahlen, aber ins Stadion am Schloss Strünkede passen bloß 6000 der kleinen Sandsäcke, Abstand immer ein Meter. „Es zählt keiner nach“, ahnt Trieb, aber: „So oder so ist dort alles Mist.“
Bei jedem Arbeitsunfall starb auch der Ernährer einer Familie
Der 56-Jährige hat das Bällebad schon einmal ausgeschüttet, zur WM-Auslosung Anfang April in Zürich. Dort warfen sie die Pillen der Fifa in den Eingang, nachher mussten sie sie wochenlang trocknen, es hatte geschneit. In Herne regnet es. Dort ist am Sonntag wichtig auf’m Platz, und dass es der Totensonntag wurde, sagt Michael Scheffler, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt im Bezirk Westliches Westfalen: „Das hat den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt.“ Die Awo unterstützt die Aktion, wie sie auch Familien der Gestorbenen vor allem in Nepal unterstützt. Man müsse sich das vorstellen, sagt Scheffler, mit jedem Arbeitsunfall in Katar sei der Ernährer einer Familie gestorben. Und dann die Menschenrechte, die Frauenrechte, die Rechte Homosexueller… und die Korruption. Die beim Gedenken helfen in Herne, wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen mit ihrer Ablehnung.
Schon morgens um sieben haben sie die ersten Kerzen entzündet, mit Blasen an den Fingern schleppen die Freiwilligen am Mittag die Bälle. Herangekarrt auf Gabelstaplern, auf den Rasen geschoben mit Servierwagen, verteilt mit klammen Fingern, ausgerichtet mit Maßstäben und Schnüren. „Weltgewissen, du bist ein Fleck der Schande“, steht auf dem Stoff, ein Protestruf aus dem Dritten Reich. Als Fußbälle sind die flachen Fladen nur zu erkennen an den fünfeckigen Waben, „die Luft ist raus“, sagt jemand. „Rontig“ sollten sie aussehen, sagt Künstler Trieb, das ist Mundart bei ihm zuhause für „abgerockt“. „Als ob sie schon auf vielen Straßen gespielt worden sind.“ Denn wenn die Straße nicht mehr mitmacht, der Bolzplatz, der Hinterhof, findet der 56-Jährige, dann funktioniere auch die Fifa nicht mehr: „Die lebt von den Fans, aber der Fußball nicht von der Fifa.“
„Gut zu sehen, dass wir mit dem Protest nicht allein sind“
Als lebende Beweise sind die Helfer von weither angereist. Wie Daniel, 16, von der Domschule aus Osnabrück, der findet, es sei „eine Katastrophe, dass es im Fußball nur noch um Geld geht und nicht mehr um den Sport“. Wie Larry, 60, vom SV Babelsberg 03 in Berlin, wo schon die ganze Regionalliga-Saison auf der Bande steht: „Nicht unsere WM.“ Sie sind Schalker, Dortmunder (mit dem Schal in der Tasche), Essener. Oder Stuttgarter: Stefan, 56, ist mit Fanschal und Tochter aus dem Ländle gekommen, und jetzt sei es „gut zu sehen, dass wir nicht allein sind“.
Es sind ja auch so viele andere da, die sich sonst keine WM entgehen lassen, an dieser aber „wenig Freude“ haben. Die Fußballmannschaft Flüchtlinge aus Lippstadt, die sich die Bälle zuwirft und von der Betreuerin Katerina Civello sagt, sie kämen alle aus Ländern, „in denen Menschenrechte auch keine große Rolle spielen“. Frank aus Mülheim, der trotz der eiskalten Hände findet, es sei eine „Super-Aktion, um mit den Mitteln des Fußballs auf die katastrophale Entscheidung“ hinzuweisen, den Wettbewerb nach Katar zu vergeben. Oder Schwester Eva-Maria, die im Habit die Bälle sortiert und findet, für Protest sei es zwar „viel zu spät“. Es sei für die Schüler ihrer Berufsschule aber wichtig zu zeigen: „Ich bin da und mach‘ was.“ Man könne nicht von anderen erwarten, dass sie etwas tun und selbst schweigen.
Strünkede: Ein „krasser Gegensatz“ zu den Tempeln von Katar
Noch schöner wäre es gewesen, sagt die Franziskanerin, „imposanter“ auch, wenn die Trauerfeier in Dortmunds Station stattgefunden hätte. „Herne kennt ja keiner.“ Aber das ist nun wirklich nicht wahr, wie nicht nur Jürgen weiß: Der Gladbach-Fan ist aus Frechen gekommen, genau hier war das allererste Auswärtsspiel seines Lebens, Westfalia Herne gegen den Wuppertaler SV. Jetzt aber wird der 64-Jährige kein einziges WM-Spiel anschauen, „absolut nicht“! Volker-Johannes Trieb sagt: Strünkede, mit seinen vielen Stehplätzen und der Tribüne, von der die Farbe blättert, sei „ehrlich, ein krasser Gegensatz zu den Tempeln nicht nur in Katar“. Hier sind eigentlich alle gleich“.
Künstler: Tausende Menschen starben für das Vergnügen anderer Menschen
Auf den Rängen stehen um fünf Uhr am Nachmittag nur die 20.000 Kerzen. Die Helfer stehen im Seitenaus, „für den Volkssport Fußball“, wie Moderator Manni Breuckmann sagt. „Wir trauern.“ Ein Cello spielt am Mittelkreis ein Requiem, jemand stellt mit Berthold Brecht „Fragen eines lesenden Arbeiters“, Künstler Trieb erzählt die Geschichte von Fahim aus Bangladesch, der auf einer Baustelle in Katar sein Leben ließ – und entschuldigt sich. Noch nie, hat er gesagt, sei für eine Fußball-WM ein höherer Preis in Kauf genommen worden: der Tod Tausender Menschen. Für das Vergnügen der Menschen. In Katar läuft die zwölfte Spielminute, es steht noch 0:0.