Düsseldorf. Die frühere Obdachlose Gisa M. fuhr mehrfach ohne Fahrschein, jetzt sitzt sie im Gefängnis. Düsseldorfer Prominente kämpfen für ihre Freiheit.

Zum Amtsgericht kam Gisa M. Ende Oktober mit einem Koffer: Die Düsseldorferin ahnte schon, dass diesmal eine Haftstrafe fällig war. Aber der Richter ließ sie ziehen. Die Polizei griff Tage später, am 4. November, zu, da war Gisa M. auf dem Weg zur Methadon-Ambulanz. Seit zwei Wochen sitzt die 56-Jährige nun in Haft. Wegen „Fahrens ohne Fahrschein“, sagen ihre teils prominenten Unterstützer, die „Freiheit für Gisa“ fordern: Hier werde Armut bestraft. Doch juristisch wie politisch ist die Sache so einfach nicht.

Sie haben Gisa M., Mutter, Großmutter und Frauchen von „Balu“, nicht zum ersten Mal erwischt bei der Rheinbahn. Mehr als zehn Verfahren zählt das Amtsgericht, zum Teil noch aus der Zeit, als sie wohnungslos war. „Neun Jahre straffrei“, so klingt es hingegen bei FiftyFifty. Der Verein zur Unterstützung von Obdachlosen sieht die Sache positiv: Aus seiner Sicht hat Gisa es geschafft, sie sei „sozial integriert“. Hat seit mehr als einem Jahrzehnt eine Wohnung, ist der Zwangs-Prostitution entronnen, hat dem Heroin abgeschworen. Sie verkauft das Straßenmagazin, arbeitet als Stadtführerin und spricht offen wie öffentlich über ihre Armut; neulich noch redete sie Tacheles mit SPD-Chef Thomas Kutschaty.

Unterstützer beklagen „wahnsinnig hartes Urteil“

Gisa M. diskutierte erst im August mit SPD-Chef Thomas Kutschaty.
Gisa M. diskutierte erst im August mit SPD-Chef Thomas Kutschaty. © Privat | Privat

Jetzt aber fürchten sie um die Gesundheit „ihrer“ Gisa: Bei ihrer Verhaftung, erzählt Sozialarbeiterin Julia von Lindern, habe die ohnehin magere 56-Jährige nur noch 43 Kilo gewogen. Das Verfahren habe sie „gestresst, sie hatte totale Angst vorm Eingesperrtsein“. Dass das Amtsgericht sie für ein halbes Jahr ins Gefängnis geschickt hat, nennt von Lindern „ein wahnsinnig hartes Urteil“, „unsinnig“, „völlig überzogen“ und überhaupt „nicht erklärbar“. Zwar dürfe man hin und wieder telefonieren, einen Besuchstermin gebe es aber erst zum Ende des Monats. „So behandeln wir sonst Menschen, die eine schwere Straftat begangen haben.“

Zehn Kilometer bis zur Methadon-Ambulanz

Grundlage für die Haftstrafe ist Paragraf 265a, „Erschleichen von Leistungen“. Danach kann, wer „… die Beförderung durch ein Verkehrsmittel … in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten“ – wer also schwarzfährt – mit einer „Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“ werden. Gisa M. fuhr oft ohne Ticket, das bestreitet niemand. Ihre Wohnung hat sie im Stadtteil Benrath gefunden, bis zur Methadon-Ambulanz in der Düsseldorfer Innenstadt, wo sie täglich ihre Drogen-Substitution bekommt, sind es rund zehn Kilometer. Sie bräuchte also eine Monatsfahrkarte, das Sozialticket kostet in der Landeshauptstadt 39,80 Euro. Kaum zu bezahlen von 449 Euro Hartz IV, findet auch FiftyFifty: Die Strafe sei „eine Armutsverurteilung“.

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Von Jochen Gaugele und Christian Unger

Die nicht nur Gisa M. trifft. In der Politik wird der Paragraf 265a seit Jahren diskutiert. FDP-Justizminister Marco Buschmann sprach sich bereits im Sommer dafür aus, das Schwarzfahren von einer Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabzustufen. „In Deutschland sitzen viel zu viele Menschen im Gefängnis für Delikte, für die laut Gesetz eigentlich eine Geldstrafe angemessen ist“, so Buschmann damals in der WAZ. Wenn Menschen allein wegen ihrer Armut in Haft kämen, sei das „ein Gerechtigkeitsproblem“. Auch Benjamin Limbach (Grüne), neuer Justizminister in NRW, sprach sich bereits für eine Änderung des Gesetzes aus.

„Breiti“, Jacques Tilly und Kay Lorentz unterschrieben das Gnadengesuch

Gisa M. im Sommer mit „Breiti“ von den Toten Hosen: Der Gitarrist unterschrieb das Gnadengesuch für die 56-Jährige.
Gisa M. im Sommer mit „Breiti“ von den Toten Hosen: Der Gitarrist unterschrieb das Gnadengesuch für die 56-Jährige. © Privat | Privat

An ihn richtet sich deshalb auch ein Offener Brief, den zahlreiche Düsseldorfer Wissenschaftlerinnen, Kirchenleute, Künstler und Prominente unterschrieben haben. Unter dem Titel „Begnadigung für Gisa M.“ fordern Unterzeichner wie Gitarrist „Breiti“ von den Toten Hosen, Kay Lorentz, Chef des „Kom(m)ödchen“, oder Karnevalswagen-Bauer Jacques Tilly, „den aus der Nazizeit stammenden Paragrafen 265a aus dem Strafgesetzbuch zu streichen“. Die Verhängung von Haftstrafen, heißt es weiter, sei sowohl wegen der „extrem hohen Haft-Kosten“ als auch „mit Blick auf die Desintegrationsspirale, die damit verbunden ist, unangemessen und kontraproduktiv“.

Viele von Armut betroffene Menschen in diesem Land teilen das Schicksal von Gisa und fahren aus Not ohne gültiges Ticket“, schreiben die Autoren. Schon vor der Inflation und den derzeit explodierenden Lebenshaltungskosten habe das staatliche Existenzminimum nicht ausgereicht, um ein Leben in Würde zur führen, „der aktuelle ALG II-Satz reicht hinten und vorne nicht aus“. Für Gisa M. bedrohe die Haft „das Leben, das sie sich in den letzten Jahren aufgebaut hat und damit auch ihre therapeutischen Erfolge“, ihre Wohnung und ihre soziale Einbindung.

Amtsgericht: Die Bewährungsauflagen wurden nicht eingehalten

Allerdings hat das Amtsgericht die Haftstrafe nicht wegen zweier fehlender Tickets verhängt, wie es im Brief vereinfacht heißt. Tatsächlich gibt es zwei Verfahren wegen Schwarzfahrens gegen Gisa M., eines aus 2020 (zwei Fälle) und eines aus 2021 (sieben Fälle). Beide Strafen, einmal für sechs Monate und einmal für ein Jahr, wurden auf Bewährung ausgesetzt. „Man baut viele Brücken“, sagt Gerichtssprecherin Elena Frick. Gisa M. aber habe ihre Bewährungsauflagen nicht eingehalten. In solchen Fällen stellt die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Widerruf der Bewährung, auf einen Gerichtsbeschluss hin erging im Juli der Haftbefehl. Die sechs Monate aus dem ersten Verfahren soll die 56-Jährige nun absitzen, über die Konsequenzen im zweiten ist noch nicht entschieden.

Hier protestiert Gisa M. selbst. Nach ihrer Inhaftierung gingen ihre Unterstützer auf die Straße.
Hier protestiert Gisa M. selbst. Nach ihrer Inhaftierung gingen ihre Unterstützer auf die Straße. © Privat | Privat

Spender wollen das Bahnticket für Gisa M. bezahlen

Sollte das Gericht auch dort die Bewährung aufheben, könnte Gisa M. sogar die Gesamtstrafe von eineinhalb Jahren absitzen müssen. Dann würde das Jobcenter auch ihre Wohnung nicht weiterbezahlen. Der Verein FiftyFifty indes widerspricht und hat über einen Anwalt offiziell Beschwerde eingelegt: Die Verurteilte habe 200 Sozialstunden bei einem Beschäftigungsprojekt der Drogenhilfe geleistet, geforderte Nachweise längst geliefert. Nach Aussage von Julia von Lindern „hakte“ es beim Postweg, bei der Beschaffung von Unterlagen und in der Kommunikation mit der Bewährungshelferin. Eine Reaktion auf die Gnadengesuche beim Justizministerium und der Gnadenstelle des Landgerichts Düsseldorf steht aus.

Gisa M., sagen Vertraute, gehe es in der JVA Willich II weiterhin schlecht, zugleich aber sei sie „überwältigt“ vom Zuspruch. Wenn und wann auch immer sie freikommt, wird sie jedenfalls nicht wieder schwarzfahren müssen: Schon vor dem Amtsrichter hat FiftyFifty versprochen, für fünf Jahre ihr Sozialticket zu übernehmen. Was nun schon gar nicht mehr nötig ist: Mehrere Spender haben angeboten, die Kosten zu übernehmen. Dauer-Aufträge sind bereits eingerichtet.