Essen. Die Sekteninfo NRW empfängt deutlich mehr Hilferufe. Betroffene berichten von Schamanen, verlassenen Kindern und betrügerischen Seminaren.

Krieg, Pandemie und Geldnot: Mit der Dreifachkrise kommen die Angst, die Verwirrung, der Wunsch nach einfachen Lösungen. Und der Markt stellt sogleich die passenden Angebote bereit: Verschwörungstheorien, Schamanen und betrügerische Coaching-Seminare – zum Beispiel. Bei der Sekten-Info NRW mit Sitz in Essen landeten zuletzt rund ein Viertel mehr Fälle als im Vorjahr. Rund 600-mal ließen Betroffene oder Angehörige sich informieren, in etwa 750 Fällen waren intensive Beratungen notwendig. Schon im Vorjahr, mit Beginn der Corona-Krise, hatte die Zahl der Hilfesuchenden zugenommen.

Den größten Anteil nimmt weiterhin das Thema Verschwörungstheorien ein. Corona rücke allerdings in den Hintergrund, berichtet Sabine Riede, Leiterin von Sekten-Info NRW. Denn Verschwörungstheorien änderten flexibel ihren Fokus, gerade sei es der russische Angriffskrieg. Einige Betroffene hielten alle Berichte in westlichen Medien für verdreht. „Andere sagen: Die Russen wollen nur die Kinder befreien, denen Blut abgezapft wird ... Menschen versuchen, so ihre eigenen Ängste vor dem Krieg besser in den Griff zu kriegen.“ Dies kann allerdings oft harte Folgen haben: Familien werden entzweit, und in rund zehn Fällen sahen Angehörige das Wohl von Kindern gefährdet. Dreimal wurden gar Kinder von einem Elternteil entführt.

Die Schamanen

Immerhin 40 Anhänger umfasst eine „schamani­sche Lebensgemeinschaft im Ruhrgebiet“, die die Corona-Pandemie als Beweis für die Existenz dunkler Mächte sieht. „Diese Gruppe wird von einem Ehepaar angeführt, das sich selbst als von Indianern abstammend bezeichnet“, heißt es im Jahresbericht von Sekten-Info. „Durch ihre angebliche Hellsichtigkeit und ihren direkten Kontakt zum Jenseits fühlen sie sich in der Lage, die Gruppe mit ihrem allumfassenden Rat zu leiten. In den Beratungsgesprächen wurde deutlich, wie sehr betroffene Angehörige darunter leiden, dass der Kontakt häufig ohne jede Erklärung komplett abgebrochen wurde.“ Das betrifft sogar die eigenen Kinder.

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Der Bruder eines Betroffenen kümmerte sich um seine Nichte und berichtet: „Johanna erzählte mir, dass ihr volljähriger Bruder Jonas nicht mehr daheim sei und sie nicht wüsste, wo er ist. Jonas sei nach einem Streit mit seinem Vater mit ihm zusammen weggefahren und nach einem Tag mit kurz geschorenen Haaren wiedergekommen. Dann sei er wieder fortgefahren und nicht mehr aufgetaucht.“

Später fand das Jugendamt Videoclips mit Johannas Eltern im Netz: „Darin behauptete mein Bruder, er sei ein Krieger von einem anderen Planeten ... Sie würden in einer Matrix leben. Die Menschen seien schwach und würden durch die dunklen Mächte wie Marionetten gelenkt ... Ich war schockiert. So kam für uns in kürzester Zeit das gesamte Ausmaß ans Licht.

Der Bruder und seine Lebensgefährtin meldeten sich noch einmal. Sie wollten mit neuen spirituellen Namen angesprochen werden und warfen den Verwandten vor, „die hellsichtigen Anführer seiner Gemeinschaft“ schlecht zu machen. Die Familie hat nun keinen Kontakt mehr zu ihm, der Lebensgefährtin und dem volljährigen Sohn Jonas. Johannas zog in eine Wohngruppe ein. „Die Eltern der Lebensgefährtin“, erzählt der Bruder „sind jenseits der 80 und haben nur diese eine Tochter. Sie haben außer rein organisatorischer Dinge ebenfalls keinen Kontakt zu ihrer Tochter und dem ältesten Enkelkind.“

Das Seminar

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Eine Betroffene berichtet über eines der Coaching-Seminare, bei denen überwiegend junge Leute ausgenommen werden mit dem Versprechen, dass alles in Erfüllung gehen kann, wenn der Wille nur stark genug ist: „Es gab ein Regelwerk zum Verhalten während der zwei Tage: Erklärungen, warum etwas nicht geht, durften nicht geäußert werden. Außerdem sollten wir über das, was in der Nacht passierte, nicht sprechen. ... Man sollte durchmachen und man wurde ständig mit lauter Musik zugedröhnt, zu der man tanzen sollte. Systematisch wurde dafür gesorgt, dass man sich nicht erholen konnte. Noch im Saal bekam man die Chance, zu gehen. Aber man wusste nicht, was einen erwartet. Alle blieben.“

„Letztlich ging es darum, dass die Menschen Erotikunterwäsche anziehen und sich dann der Menge präsentieren sollten, es gab Sadomaso-Equipment. Die Gruppe wurde zuvor angeleitet, den Menschen auf der Bühne zu bejubeln, anzufeuern, ihn ,energetisch zu tragen’. Auf der Bühne sollte dann jeder an seine Grenze gehen, was für die meisten bedeutete, sich auszuziehen. Ein Mann pinkelte wohl sogar auf die Bühne.“

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Das Ziel der Übung: „Mit dieser Energie, die man dort entfaltet, ist alles möglich. Als der erste Teilnehmer auf die Bühne kommt und sich windet, sich dann aber doch auszieht, möchte ich weg. Ich empfinde es als vorführen, möchte das nicht sehen. Aber ein Zurück ist jetzt nicht mehr möglich.“

Teil der Masche ist ein Schneeballsystem, die Teilnehmer sollen selbst Seminare anbieten. Vorteile verspricht ein Mittagessen mit dem Anbieter – für 10.000 Euro.