Essen. Viele Ukrainerinnen haben sich schnell arrangiert. Doch es hakt bei Kinderbetreuung und Pflegeplätzen. Wie läuft es mit der Integration?

Ein halbes Jahr in Deutschland ist längst um für viele der ukrainischen Geflüchteten, die sich jeden Dienstag in Essen treffen, um vorwärts zu kommen. Vorwärts mit der Wohnungssuche, mit der Kinderbetreuung, mit der Bewerbung und dem Sprachkurs. Man könnte sagen, dass im „Vielrespektzentrum“ der praktische Teil der Integration stattfindet. Die Caritas berät in der Begegnungsstätte in der Essener City, das Jugendamt, das Jobcenter und Vereine ebenso, Ehrenamtliche helfen mit Anträgen und Übersetzungen. Integration ist kleinteilig. Wie geht sie voran?

Valentina will wahrscheinlich in Essen bleiben und als Pflegerin arbeiten.
Valentina will wahrscheinlich in Essen bleiben und als Pflegerin arbeiten. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Seit heute bin ich im Integrationskurs“, sagt die 55-jährige Valentina aus Schytomyr, westlich von Kiew. Im März flüchtete sie vor den Raketen, Deutsch spricht sie noch kaum, im russischsprachigen Netzwerk komme sie aber schon jetzt gut klar, sagt Valentina. Sie wohnt nun zusammen mit ihrer Tochter, zwei Enkeln und ihrer Nichte. Ihre Tochter, sagt sie, wolle natürlich zurück zur Familie, sie selbst aber könne sich vorstellen zu bleiben. Die gelernte Köchin hat schon mal im Ausland gearbeitet, als Pflegerin in Israel. Außerdem, die Architektur: „Ich laufe in Essen über die Straße und denke, ich bin zuhause. Ach ja, das Wasser aus dem Hahn kann man auch trinken.“

Sprachkurse brauchen ihre Zeit

Die Chancen von Valentina auf einen Job stehen wohl nicht schlecht. „Einzelne Geflüchtete haben in ihrem alten Job eine Stelle bekommen, oft in der Pflege“, ordnet Stefanie Horstmann ein, die in Essen zwei Flüchtlingsunterkünfte der CSE (Caritas und SkF) leitet. Die Sprache sei oft das Hindernis. Doch es gebe ausreichend Sprachkurse und keine langen Wartezeiten“, sagt Horstmann. Bis jedoch das B2-Niveau erreicht ist, dauert es in der Regel mindestens 40 Wochen, wenn alle Kurse nahtlos ineinander greifen würden.

Das große Problem sind fehlende Kita- und Pflegeplätze. Auch ein Enkel von Valentina ist unbetreut, die Tochter kann darum keinen Kurs besuchen. „Von 50 ukrainischen Kindern in meinen Einrichtungen geht eines in eine Regelkita.“ Horstmann sieht aber auch die andere Seite: Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass Geflüchtete bevorzugt werden; viele Essener Kinder warten schon Jahre auf einen Platz. Immerhin: Sozialträger und Ehrenamtliche haben Spielgruppen gegründet, die für eine Zeit die Mütter entlasten.

Doch nicht alle wollen überhaupt ankommen. Horstmann erlebt, dass „einige gar nicht in eine richtige Wohnung umziehen wollen, weil der Wunsch da ist, möglichst schnell zurückzukehren zu Mann und Familie. Gerade zu Beginn des Krieges haben sich viele eingeredet, er sei bald vorbei. Erst nach einigen Monaten setzte dann bei den meisten eine Resignation ein“, die in eine Wohnungssuche mündete.

Maria lernt gerade Deutsch. Ihr Ziel: wieder als Architektin arbeiten.
Maria lernt gerade Deutsch. Ihr Ziel: wieder als Architektin arbeiten. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Auch für Maria ist Sprache das größte Thema. Die 39-Jährige hat in Charkiw als Architektin gearbeitet, ihr Mann ist Elektroingenieur mit türkischer Staatsbürgerschaft. In der Arztpraxis wurde Maria gesagt, sie solle anrufen, um einen Termin zu machen. Am Telefon kam sie mit ihren rudimentären Englischkenntnissen nicht weiter. „Aber viele Türken unterstützen einen.“ Auch den beiden Töchtern Jasmin (12) und Ailin (9) kommt es zugute, dass sie sich auch auf Türkisch verständigen können in der Klasse, „so finden sie schneller Freunde als viele andere geflüchtete Kinder“, weiß Maria. Mit Hilfe von Übersetzungsapps schreibt Jasmin schon alle Tests mit. Und das Deutsch der Kinder macht deutlich schneller Fortschritte, als das von Maria – auch wenn sie nun zeitgleich die Schulbank drückt, im Integrationskurs.

Morgens deutsche Schule, nachmittags ukrainischer Unterricht

Die Schulpflicht klappe gut, sagt Horstmann, selbst wenn es oft mehrere Monate dauere, bis die Kinder in die Schule kommen. In der Übergangszeit nehmen fast alle Kinder am Online-Schulunterricht der Ukraine teil. „Einige schauen sogar, dass sie beides machen“, morgens deutsche Schule, am Nachmittag ukrainische Live-Kurse und Mediathek-Inhalte. Das lenke sie ab und gebe ihnen das Gefühl, nicht den Anschluss zu verpassen.

Minijobs gäbe es, aber Maria und ihr Mann investieren ihre Zeit lieber in die Sprache. „Ohne B2-Niveau ist es schwierig, eine ansprechende Arbeit zu finden.“ Die Anerkennung ihrer Diplome zieht sich ohnehin noch. „Es ist auf jeden Fall kompliziert.“ – Die Bürokratie? Maria lacht. „Man braucht eine Reform.“ In der Ukraine seien die städtischen Anträge einheitlich gestaltet, man könne fast alles per Handy erledigen. „Hier fällt man leicht durch, wenn man die Sprache nicht spricht und ein falsches Dokument einreicht.“ Und die Wartezeiten? „Sind unfassbar“, sagt Maria. Den ganzen September war die Familie ohne Sozialticket. Das solle kein Klagen sein, sie wundert sich nur.

Dabei müssen Ukrainer nicht einmal zum Ausländeramt, das für monatelange Warteschleifen bekannt ist. Ihren Aufenthaltstitel bekommen sie schon in der „Zentralen Koordinierungsstelle“.

Jurastudentin Alissa Belger hilft ehrenamtlich im Vielrespekthaus in Essen.
Jurastudentin Alissa Belger hilft ehrenamtlich im Vielrespekthaus in Essen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Jurastudentin Alissa Belger hilft im Vielrespektzentrum: Gerade geht es um die Klauseln eines Mietvertrags, ein andermal um einen versprochenen Mietvertrag, der Wochen auf sich warten lässt. Neulich hatte ein Mann seine wichtigsten Dokumente im Bus verloren. Alisa rief bei der Evag an, mit Erfolg. Manchmal ärgert sich Alissa, weil ihre Hilfe für selbstverständlich gehalten wird, weil sie gehetzt wird und kein Wort des Dankes kommt. Dann wieder sitzen Frauen vor ihr, die sich ausweinen, die keine Gesprächspartner haben in der Fremde. „Eine hat mir erzählt, dass ihre deutschen Nachbarn sie abwertend anschauen, auch wegen der Sachen, die sie kocht. Es gibt viel Einsamkeit.“

„Die Grundstimmung ist Dankbarkeit“

Generell also laufe es gut, sagen Valentina und Maria und Stefanie Horstmann übereinstimmend. „Die Grundstimmung ist Dankbarkeit“, sagt die Einrichtungsleiterin. „Es ist auch schnell Verständnis da, dass man alles beantragen muss. Mittlerweile kommen die Menschen mit viel Vorwissen. Die Ukrainerinnen sind sehr gut vernetzt über Telegram oder WhatsApp und informieren sich schneller als andere Gruppen gegenseitig.“

„Ich möchte mich herzlich bedanken bei den Deutschen“, sagt Maria. „Trotz der Umstände ermöglichen sie uns, ein relativ glückliches Leben zu führen. So viele Organisationen und Nachbarn haben geholfen, mal mit Möbeln, mal mit Technik- oder Hygieneartikeln. „Das war sehr berührend. Wir haben zum Beispiel ein 90-jähriges Paar kennengelernt. Die beiden erzählten uns, dass sie selbst den Weltkrieg erlebt hätten. Sie haben uns dann ein Bett und ein Fahrrad geschenkt.“

Marias Mutter ist nachgekommen im April. Ihre Chemotherapie war unmöglich geworden in Charkiw, „ihr Viertel war komplett zerstört“. „Sie hat in Angst und Verzweiflung gehandelt, sie hatte eine halbe Stunde Zeit zu packen“. Maria ist sehr glücklich darüber, dass ihrer Mutter Ludmila im Magenkrebszentrum der Kliniken Essen-Mitte geholfen wurde. „Essen ist ja auch global für seine Onkologie bekannt.“ Vor wenigen Tagen sagten die Ärzte der Mutter, sie sei geheilt.