Recklinghausen/Gelsenkirchen. Zuhause ging es nicht mehr allein: Frau E., 84, tauscht ihre Wohnung mit einem Zimmer in einer Demenz-WG, die Familie packt ihr Leben ein.
Frau E. kommt mit einem Hasen. Eigentlich ist es ein dickes Kaninchen und auch nicht echt, sie hat erst in letzter Minute entschieden: „Der muss mit.“ Ihre Tochter hat einen schwarzen Schuhbeutel ausgeschüttelt, ihn vorsichtig hineingepackt, die Keramikohren voraus, und so hat Frau E. ihre Wohnung verlassen; zum allerletzten Mal. Mit ihrem Hasen, dem Rollator und dem gelben Sonnenschirm aus Malaysia. Die 84-Jährige ist umgezogen in eine ambulant betreute Wohngemeinschaft.
EINPACKEN
Wird bestimmt schön, die neue Wohnung, „dafür hab’ ich sie ja auch ausgesucht“. Frau E. lacht triumphierend aus ihrer Sofaecke, vor sich Pflaumenkuchen mit Sahne und das ganze Chaos eines bevorstehenden Umzugs. Tochter und Enkeltochter halten den Atem an, einen hoffnungsvollen Augenblick hängt der Satz über den Kartons. Noch drei Tage, bis sie abgeholt werden, bis der Lkw vor der Tür steht in Recklinghausen und Frau E. sich doch sehr wundern muss: „Was für eine neue Wohnung?“
Sie haben es gewusst, Jahre schon, dass die Krankheit mit eingezogen war bei Frau E. In ihre Wohnung im Stadtteil Hillerheide, oben unterm Dach, in das Leben von Mama, Oma, Uroma. Die verlor Erinnerungen, das Gefühl für Geld, verwechselte die Urenkel und Kakao- mit Puddingpulver, machte Ausflüge in ihre alte Heimat Marl, von denen sie nur mühsam zurückfand.
Demenz-Wohngemeinschaft „Leben auf Graf Bismarck“
Der Arzt hat die Demenz lange nicht bestätigt, er ließ die Patientin rechnen und fragte, wo im Supermarkt das Gemüse ist. „Aber Hausfrau kann sie“, sagt Tochter Martina: Frau E. hat ihre Kinder durchgebracht nach der Trennung von ihrem ersten Mann, lebt seit dem Tod ihres zweiten vor bald 20 Jahren allein. Sie hat viel gearbeitet, hatte eine Metzgerei, eine Kneipe und auf die Fragen des Doktors stets eine Antwort. „Sie war“, sagt die Tochter, „immer selbstständig.“
Auch interessant
Dass sie es nicht mehr ist, deutete sich lange an und ging zuletzt ganz schnell. Im Januar 2020 ahnte Martina Tolba, „irgendwann geht es mit meiner Mutter nicht mehr weiter“, sie guckten sich zusammen Seniorenheime an, Pflegeeinrichtungen; damals ging das noch. „Es hat mir alles nicht gefallen.“ Bis sie die Wohngemeinschaft der APD entdeckten, der Gelsenkirchener Pflegedienst begleitet einige solcher „Demenz-WGs“. Diese nennt sich „Leben auf Graf Bismarck“, die Bewohner heißen Mieter und sind es auch; das Pflegepersonal ist „zu Gast“. Kein Wort von einem Heim, das wäre auch nicht gegangen: Frau E. „hat immer gesagt, da geht sie nicht hin“, die Tochter hat es ihr versprochen. „Ich muss meine Mama dort unterbringen, wo ich sage, ich habe ein gutes Gefühl.“
Die Tochter weiß, wovon sie spricht: Sie arbeitet selbst in der Pflege
Martina Tolba sagt immer „meine Mama“, dabei ist sie auch schon 60. Und selbst Pflegefachkraft, sie weiß, wovon sie redet, sie könnte das alles hier professionell angehen. Aber es geht um ihre Mutter, das macht es schwieriger. „Man beschäftigt sich Tag und Nacht damit.“ Sie muss jetzt loslassen, die Verantwortung anderen übertragen, sie ist ja „froh, dass ich meine Mama in gute Hände geben kann“. Aber sie weiß nicht, was ihr mehr „Bauchschmerzen“ macht: die Sorge um die Mutter, „schlimmer als die Angst ums eigene Kind“. Einerseits. „Das schlechte Gewissen.“ Andererseits.
Es gab in den vergangenen zwei Jahren auch gute Phasen. Frau E. ging spazieren, zur Not auch nur auf dem Balkon um die eigene Wohnung herum, der Essensdienst lieferte zuverlässig, eine freundliche Nachbarin schaute täglich nach dem Rechten. Ihr Auto verkaufte sie nach langem Zureden der Enkelin, dabei hat die gar keinen Führerschein. Doch dann kamen die Tiefschläge, binnen Wochen verschlechterte sich der Zustand der 84-Jährigen massiv. Sie klingelte nachts an fremden Türen, sie kam nicht allein nach Hause zurück, die Polizei rief die Tochter an. „Sie müssen sofort kommen!“ Ein Beamter brachte die alte Frau heim, er guckte prüfend und sagte: „Verwahrlost ist sie ja nicht.“
Die Familie baut Türme aus Umzugskisten
Es hat Tochter Tolba wehgetan, „sie ist trotzdem noch ein Mensch“! Sie und Enkelin Jessica besuchten Frau E. häufiger, als es eigentlich ging: nach der Arbeit, oft mit Bus und Bahn, und meist wurden sie verabschiedet mit dieser einen Frage. „Ach, du gehst. Und ich?“ Sie hatten das Gefühl, „sie vereinsamt da“, für sie hatte die Frage noch eine andere Seite: Wir gehen. Und du? Aus dem Aufschieben der Entscheidung wurde über Nacht ein Herbeisehnen des Umzugs: „Wir können sie selbst einfach nicht mehr versorgen.“ Nicht mehr allein lassen.
Frau E. ist ein geselliger Mensch, „lebensfroh“, sagen ihre Kinder. Besuch empfängt sie mit offenen Armen, auch wenn sie ihn nicht kennt. „Sie plaudert gern“, sagt die Tochter. Und sie lacht genauso gern. Unter tausend kleinen Fältchen sind ihre Lachfalten die größten, der Geist unter dem weißen Kurzhaarschnitt mag müde geworden sein, die Augen sind wach. Interessiert, manchmal fragend fliegen sie hin und her zwischen den Umzugskisten, Urenkel Nael, der mit der Gardine Verstecken spielt, und ihrer Tochter, die nicht weiß, wo sie anfangen soll.
Umzug in die Demenz-WG: Sie packen ein ganzes Leben ein
Sie müssen hier ein ganzes Leben einpacken, 84 Jahre, ein Leben, das begonnen hat noch vor dem Krieg. Aber zugleich müssen sie es „reduzieren“, sagt Martina Tolba, von 62 Quadratmetern auf 16, von einer Wohnung auf ein WG-Zimmer. Es wird alles weniger auf diesem letzten Abschnitt eines Lebens, nicht nur die Kraft oder der Appetit. „Was passt und muss mit? Ganz schwierig.“ Sie soll haben, findet die Tochter, „was zu ihr gehört“. Aber was ist das? Was bleibt, was kann weg und wohin? Die Frage: „Was ist ihr Leben“? ist ja größer bei Frau E. Sie lautet: „Was erinnert sie?“
„Die Couch“, sagt Tochter Martina. „Ihre Stifte“, sagt Enkelin Jessica. „Hoffentlich kommt das ganze Zeug mal weg“, sagt Frau E.
Fast hat die Couch Martina Tolba die größten Sorgen gemacht, man sucht sich ja kleine, wenn man die großen nicht mehr aushält. Rot ist sie, mit kleinen Blumen und großen Rosen in Rosa, Gelb, Grün. Frau E. hat sie vielleicht zehn Jahre, etwa seit sie in diesem Haus wohnt. Wochenlang ist sie damals um den Möbelladen herumgeschlichen, bis das Sofa endlich einzog, nebst passendem Sessel. Hier sitzt sie, immer, mit Nael auf dem Schoß oder einer Cola in der Hand („Dann trinkt sie wenigstens!“). Die Couch muss mit, zwei Meter und nochwas, aber passt sie in das neue Zimmer? Es ist das erste, was Martina Tolba in Gelsenkirchen ausmisst.
Frau E. ist immer kreativ gewesen, ihre Stifte und Bastelsachen müssen mit
Stifte und Bastelsachen findet Enkelin Jessica, 37, wichtig. Die Oma hat immer Karten gebastelt, vor dem Umzug suchen sie den Karton mit den schönsten, aber finden ihn nicht. Gemalt hat sie, in Öl und auf Seide, genäht, Blumen gesteckt, „immer alles verschönert“, die Enkelmädchen liebten sie dafür. Im Schlafzimmer steht Uromas Nachtschränkchen, das hat sie lila angemalt, die hölzernen Engel darüber pink. Über die Stifte wacht gerade Urenkelin Thalia, aber nur vorübergehend, falls die „Omma“ wieder malen will. Und dann die Tiffany-Lampe, „die gehört zu ihr“, sogar die hat Frau E. selbstgemacht. „Ich habe so vieles gemacht.“ Mit immer noch flinken Fingern streicht sie über die Nähte zwischen den Glasblumen. „Lötblei. Ganz einfach.“
Die ganze Wohnung steht und hängt voll solcher Andenken, an jeder Wand drängt sich die Deko, die Frau E.s Familie „Schnurrpfeifereien“ nennt. „Überflüssiges/wertloses Zeug“, sagt das Lexikon, auch: Plunder oder Tand. Aber die schlauen Bücher kennen natürlich nicht die endlose Kreativität von Frau E., sie wissen nicht, wie gemütlich und einzigartig diese Dinge ihr Zuhause machen, wie schön selbst ihr Mario, der Lebensgefährte der Tochter, das „überflüssige Zeug“ findet: Er nimmt gleich eine ganze Vitrine voll davon, aber erst nach dem Umzug.
„Wir haben so viel Zeug, wir wissen gar nicht wohin.“ Es sei ihr zu viel, behauptet Frau E., aber das ist heute und kommt für die Familie nicht infrage. „Das kommt doch nicht weg!“, verspricht Martina Tolba, aber wohin es kommt, weiß sie ja auch noch nicht. Jedenfalls nicht alles mit nach Gelsenkirchen. „Du musst dich ja irgendwo hinsetzen können.“ Jetzt gerade sitzt Frau E. auf ihrer Couch und lacht unsicher. „Wat weg is’, is’ weg.“
Bild gewordene Erinnerungen
Vor einiger Zeit noch hat Frau E. „wie eine Glucke überall draufgesessen“, nichts abgegeben, alles versteckt. „Geräumt“, sagt die Familie. Kartons und hübsche Kisten aus Kunststoff stapeln sich nicht nur im Schlafzimmer bis zur Decke: Das ist ihre Ordnung. Für den Kuchen ist gerade nur noch eine Gabel zu finden, ein einsamer Esslöffel auch. Noch am Tag vor dem Umzug verschwindet Martina Tolbas Brille und von ihrem Partner der Tabak, vermisstes Geld bleibt auch nach langem Fahnden verschollen. Doch eigentlich war das vorbei, sie sei jetzt „handzahm“, sagt die Tochter, meint das liebevoll und gleichzeitig besorgt: Die Mutter habe „keinen Bezug mehr zum Eigentum“. Das macht es einfacher, hoffentlich.
Im kleinen Zimmer neben der Wohnungstür links haben sie den ersten Umzugskarton für die Fotoalben gefaltet. Es sind immer die Fotoalben, die zuerst eingepackt werden, wenn ein alter Mensch in eine Senioreneinrichtung zieht: Bild gewordene Erinnerungen. Der kleine Nael bringt eins der schweren Bücher, der Zweijährige kann es kaum tragen. „Mäusi“, sagt Frau E. dankbar. Das ist neutral, manchmal sagt sie „sie“, wenn sie den Jungen meint; seine große Schwester ist schon zwölf.
„Mäusi“ kennt die fremden Länder nicht, in denen die „Omma“ früher war. Frau E. hat vor allem ihre Reisen eingeklebt, die Fotos sind etwas gelb geworden mit der Zeit. Sie war viel unterwegs mit ihrem Mann, er baute bei Siemens Turbinen. Schweden, Kuala Lumpur, Griechenland steht auf den Rücken der Alben, „Malaysia, Wien, Gerasdorf“. Oft blieben sie für Monate, „ich war ziemlich überall“, sagt Frau E. Und wo noch nicht? „Dat gibtet gar nich’.“
Neues Zuhause an Gelsenkirchens neuer Marina
Und jetzt also Gelsenkirchen. Da wollte Frau E. nie hin, „keine schöne Gegend“, hat sie oft gesagt und die ganze Stadt gemeint. Aber sie haben ihr das Haus mehrfach gezeigt, die kleine Marina dahinter, ganz in der Nähe vom Zoo und von der Wohnung der Enkel; es ist ein neues, modernes Viertel entstanden am Kanal, wo früher die Zeche Graf Bismarck war. „Guck’ mal, wie schön!“, hat Martina Tolba gesagt und vor sich selbst wiederholt, dass ihre Mama beim ersten Besuch ganz angetan war: „Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie damals zu der Idee, hier einzuziehen. Aber es ist natürlich zweieinhalb Jahre her.
Die Familie hat versprochen, sie machen es ihr schön, das neue Zuhause. „Aber ob sie es als ihres anerkennt?“
ABSCHIED
Der Umzugswagen kommt am Montag, sie haben das ganze Wochenende gepackt und geräumt, und am Sonntagabend war Frau E. ein bisschen ungehalten. Es reichte ihr jetzt, all’ die Leute und das Gewusel, man fand ja auch gar nichts mehr wieder. Jetzt steht sie auf dem Balkon und zupft etwas unruhig an zwei immergrünen Büschen im Topf, „ganz praktisch“, weil man die nicht gießen muss und die Kunstblumen schon gar nicht. Auf ihrer Bluse sind heute auch bunte Blüten, dazu trägt Frau E. weiße Leggings mit Strass-Steinchen, sie setzt sich nicht hin. Mario, der Partner der Tochter, stellt den alten Nähmaschinentisch neben ihr ab. Es ist ihnen eingefallen, dass der Kleiderschrank, wenn die Möbelpacker ihn abbauen wollen, auch erreichbar sein sollte. „Oh Gott“, sagt Frau E., „was hier alles passiert.“
Die kleine Frau E., schmal geworden in letzter Zeit, ist fast zugebaut mit Tüten voller Kleider, mit Kisten und rosa Schuhschachteln. „Kommt das alles mit in die neue Wohnung?“ Dabei hat sie gerade von einer neuen Wohnung nichts mehr wissen wollen. Vorsichtig öffnet sie einen Schuhkarton, darin liegen die hübschen Gelben mit Blümchen, Größe 41, aber trotzdem zu eng geworden an den geschwollenen Füßen. Am Mittwoch wird der Arzt zu ihr kommen, er verschreibt Entwässerungstabletten, aber das hilft ihr heute wenig. Die Gesundheitssandalen schneiden auch schon ein, und sie gefallen ihr nicht.
Badeanzüge und Bikinis braucht Frau E. nicht mehr
Die 84-Jährige „war immer gern schick“, sagt ihre Tochter, ihre Kleidung trägt sie am liebsten je bunter, je doller. Schwarz, „um Gottes Willen“, aus jedem Teil lacht das Leben. Knallige Blumen, farbenfrohe Muster, „Stehkrägelchen, Rüschen, Spitze, Schleifchen“, zählt Martina Tolba auf. Die Mutter hat immer viel bestellt, tolle Kleider und Hosenanzüge. Der Kleiderschrank quillt über, so viele Stücke, eng gestopft, man muss hier unbedingt aussortieren. Ohnehin passt in das neue Zimmer nur ein kleinerer Schrank, deshalb tauschen sie: Den großen von Oma kriegt Urenkelin Thalia, der kleine von Brüderchen Nael geht zu Oma. Vielleicht trennt man deren Garderobe nach Jahreszeiten, Sommer, Winter, der Rest kommt in den Keller?
Am Ende machen sie es doch anders. Das Auffallendste wird weggeräumt, „sie sah immer toll damit aus, aber da ging sie noch aufrecht und stolz“. Tochter Martina stimmt das traurig, aber „es passt wohl nicht mehr“. Der Karton mit den Badeanzügen und Bikinis kann weg, die drei Kisten Schals und Tücher braucht die Mama auch nicht mehr, jedenfalls nicht alle. Und die Sommerkleider: Frau E. friert doch so, „sie ist immer eiskalt“. Vieles geht in die Altkleidersammlung, manches auf den Flohmarkt, Enkelin Jessica trägt am Ende 30 Säcke auf den Müll, aber da sind längst nicht nur Klamotten drin.
Den gelben Sonnenschirm hat Frau E. einst aus Malaysia mitgebracht
Frau E. auf dem Balkon fasst alles an, während sie sortieren, es ist, als würde sie Verlorenes wiederentdecken. „Ich kriege da immer eine Gänsehaut“, sagt sie und zeigt ihre Unterarme her, „das ist ja alles meins!“ Hinter einen Haufen Tüten hat jemand ihre Schirme geklemmt, die alte Dame greift nach dem gelben, ein zartes Exemplar mit Rüschen. „Gegen die Sonne, nicht gegen Regen“, sagt Martina Tolba, die gerade vorbeieilt mit irgendwas in der Hand, das sie von links räumt nach schräg. „Den hat sie aus Malaysia mitgebracht.“
Lange bleibt Frau E. so stehen, dreht sich ein wenig, den Schirm aufgespannt, die gelben Schuhe würden jetzt gut dazu passen. Sie schaut hinunter in den Hof, das Gras ist vertrocknet, nie hat hier jemand mal Blumen gepflanzt. Nur die Goldrute blüht, aber das sei ja nun auch Unkraut, findet Frau E. Dann schaut sie wieder auf ihre Siebensachen, „wird das einfach weggeschmissen? Das tut einem doch weh. Nichts wegwerfen, das hat die Oma schon immer gesagt“.
Die „Oma“, das war ihre Mutter, die irgendwann einzog in das Seniorenheim gleich nebenan, es heißt „Evergreen“. Damals wohnte Frau E. noch in Marl, im Zechenhaus ihrer Eltern, der Vater war Bergmann. Und wie sie so regelmäßig herkam, die „Oma“ zu besuchen, sah sie den Neubau wachsen am toten Ende der Straße, nicht weit vom Hellersbach. „Da ziehe ich ein“, sagte sie ihrer Tochter, da hatte sie den Mietvertrag schon so gut wie unterschrieben.
Die Bergmannstochter verkauft das elterliche Zechenhaus in Marl
Das Haus in Marl wurde verkauft, Frau E. machte es sich gemütlich in Recklinghausen, das Schlafzimmer ganz in Lila, für das Wohnzimmer kaufte sie die rote Couch. Die Möbelpacker kommen um neun, „so viele!“, aber sie sollen ja auch das Sofa abholen, das ist das Wichtigste, hat die Familie entschieden. „Glaube ich nicht, dass die mir meine Couch bringen, hast du denen das gesagt?“ Martina Tolba hat ihnen so vieles gesagt, aber sie musste erst einmal ein Umzugsunternehmen finden.
Es ging alles so schnell, das musste es auch, auf der Warteliste der APD stand Frau E. zum Glück weit oben. Wobei dieses „Glück“ immer auch das Unglück von jemand anderem ist; es ist ein Mensch gestorben, wenn ein Zimmer frei wird. Der Pflegedienst wirbt mit dem Versprechen „Wir kümmern uns“, Geschäftsführer Claudius Hasenau hat Martina Tolba zugesagt, dass sie die Angehörigen „an die Hand nehmen“. Aber er weiß selbst auch, dass sie durch einen „Dschungel von Formalitäten“ müssen. „1000 Sachen“, sagt die Tochter, „um die ich mich kümmern muss.“
Für die Umzugshilfe verlangt das Amt ein Gutachten
Den Mietvertrag in Recklinghausen kündigen, das Telefon, die Versicherungen. Möbelpacker finden innerhalb von Wochen, wie viele hat Martina Tolba abtelefoniert! Anfangs wollten sie es selbst machen, aber dann fuhr ihnen schon der erste Schrank in den Rücken. Da hat die 60-Jährige Umzugshilfe beantragt, Bearbeitungszeit vier Wochen, mindestens, und am Ende verlangte das Amt ein Gutachten, dass das auch wirklich nötig sei.
Auch der Sperrmüll avisiert einen Termin frühestens drei Wochen nach der Schlüsselübergabe an die Nachmieter. Die immerhin sind schnell gefunden. Als sie die Wohnung besichtigen, geht Enkelin Jessica mit der Oma in die Stadt. Einen Kaffee trinken, ablenken, sie soll nicht mitkriegen, wie Fremde ihr Zuhause angucken.
An jenem Tag kauft Frau E. sich einen Bilderrahmen: „Family ist, wo das Leben beginnt“, steht darauf, „und die Liebe niemals endet.“ Bei der APD sind sie froh, dass hinter Frau E. eine Familie steht, das ist nicht immer so. Martina Tolba kennt die Situation auch, aus ihrer eigenen Tätigkeit in der Pflege. Wie oft hat sie Angehörige angerufen und „angebettelt“, dass sie kommen mögen zu ihren Lieben. Von „Kümmern“ redete sie da noch gar nicht.
Wichtige Info für den Pflegedienst: Ist Frau E. ein Tag- oder Nachtmensch?
Der Medizinische Dienst kommt immerhin kurzfristig, Dienstag zur Begutachtung, Mittwoch die Nachricht: Pflegegrad 4. Auch der Mitarbeiter im Sozialamt arbeitet anfangs schnell und freundlich: „Bringen Sie alles, was Sie haben. Wir machen das schon“, beruhigt er Frau Tolba. Die allerdings wartet drei Wochen später immer noch, da bucht die neue Wohngemeinschaft schon längst ab. Von dort bekommt sie gleich eine ganze Mappe. „Sozialanamnese“, Biografie, Kontaktpersonen, ist die neue Mieterin ein Tag- oder ein Nachtmensch? Und wie soll es sein, wenn es zu Ende geht? Es fängt doch gerade erst an.
Die Familie soll das alles ausfüllen, Lebens-Stationen, prägende Ereignisse, Ernährungsgewohnheiten… Dazu bitte die Dokumente: Vollmachten, Ausweise, Krankenversicherungskarte. Die zieht Martina Tolba beim Einzug aus ihrem Portemonnaie, zu mehr ist sie bislang noch gar nicht gekommen.
Auch interessant
Auch nicht zum Lesen: Prüfberichte der Heimaufsicht, Besuchskonzept bei Corona, Angehörigenkartei. Die Familie ist eine von drei Säulen der Demenz-WGs, man würde gern wissen: Wie und wo bringt Frau Tolba sich künftig ein? (Salat machen für das Sommerfest, dafür hat sie sich schon eingetragen.) Protokolle von Mitgliederversammlungen liegen bei; die letzte (zehn Frauen, zwei Männer) beschloss, Medikamenten-Tabletts anzuschaffen und den Besuch von Gabis mobiler Tierfarm zu verlegen: Wenn Gabi kommt mit Ponys und Frettchen, ist Frau E. schon da.
Gefahr für die alte Dame: Herd, Wasserkocher, Brotmaschine sind abgeklemmt
In den letzten Wochen in Recklinghausen hat Martina Tolba jedes Mal einen Rundgang gemacht, wenn sie zu ihrer Mutter kam, die hat sich nicht einmal mehr gewehrt gegen „die Kontrolle“. Frau E. hat immer noch eingekauft, oft für das ganze Haus, aber dann fand die Tochter die Lebensmittel überall verstaut, auch in der Spülmaschine. Nun lief die ohnehin nicht mehr, sie hatten die Küchengeräte längst vom Strom getrennt, vorsichtshalber: den Herd, den Wasserkocher. Die Brotmaschine haben sie gleich ganz mitgenommen.
Sie wird das alles ohnehin nicht mehr brauchen. In der Wohngemeinschaft „Leben auf Graf Bismarck“ leben sie zu acht auf der Etage, jeder in einem eigenen Zimmer mit Bad, in ihrer Mitte ein riesiges Wohnzimmer mit offener Küche. Hier kochen Frauen, die „Concierge“ heißen, man isst zusammen; letztes Jahr haben sie ein Kochbuch gemacht mit den besten Rezepten ihrer „Mieter“. Frau E. sagt, sie mag „eigentlich alles Mögliche gerne, aber nicht so Gematschtes“. Sie selbst wird gerühmt für ihren Sauerbraten. Und für ihren Frankfurter Kranz. „Kochen und Backen war meine Leidenschaft.“
Ihre Kunden damals in der Metzgerei waren „Leckerschmecker“, sagt Frau E. In der Kneipe liebten die Gäste ihre Frikadellen. Sie war die Chefin im „Hirsch“ in Marl, den es schon lange nicht mehr gibt, niemand habe daran je gezweifelt. Frau E., auch als Mutter, war eine, die den Ton angab, die aufblühte, wenn man sie bewunderte: Verwöhnt als Kind, sagt ihre Tochter, zuletzt oft misstrauisch, es war nicht immer nur einfach mit ihr. Und jetzt lässt sie so vieles geschehen, sie müssen sich erst daran gewöhnen.
Es ist zwanzig vor zehn, als Frau E. das letzte Mal durch ihre Wohnungstür geht. Ihre Tochter drängt ein bisschen, sie will nicht, dass ihre Mutter sieht, wie sich ihr Zuhause leert. Ihr Lebensgefährte wird gleich abschließen. „Wir gehen jetzt schön frühstücken“, sagt Martina Tolba und packt den Keramikhasen in die Schuhhülle. Frau E. nimmt den Rollator und den Schirm, sie sieht nicht mehr nach links in die Küche und nicht nach rechts ins Schlafzimmer, wo die Männer irgendetwas in Folie packen. Sie läuft geradeaus vom Balkon zur Tür, es sind weniger als 20 Schritte. Sie schaut sich nicht mehr um.
Das Bett bekommt die Urenkelin, Frau E. hat jetzt ein Pflegebett
Im Hausflur liegen die toten Fliegen des Sommers auf der Treppe, Frau E. nimmt den Fahrstuhl. Setzt sich auf den Rollator und sagt: „So.“ Draußen wundert sie sich über die Umzugswagen, es sind zwei, einer fährt den Kleiderschrank zu Jessica. Und das Bett, in dem bald die zwölfjährige Thalia schläft. Martina Tolba aber erklärt, „sie müssen hier ja alle ausziehen“: Das hat die Mutter irgendwann selbst behauptet, sie haben das dankbar aufgegriffen. Auch die netten Nachbarn müssten raus, von denen ohnehin nicht mehr viele da sind, neue Pläne der Eigentümer... Notlügen allesamt. „Ich nehm’ alles so, wie’s kommt“, sagt Frau E., lacht ohne jede Bitterkeit und steigt in den Wagen ihrer Tochter. „Ich will keinen Ärger.“
Als sie in Gelsenkirchen aussteigt, bleibt der gelbe Schirm aus Malaysia im Auto liegen.
ANKOMMEN
Beim ersten Mal muss Frau E. eine Maske aufsetzen und einen Coronatest mitbringen, den kostenlosen für einen „Besuch“ in einer Pflegeeinrichtung. Es ist Mittag, die neuen Mitbewohner auf „Graf Bismarck“ haben den Kaiserschmarrn gerade auf, und Mario hat angerufen: Das Sofa ist schon da, jetzt fehlt nur noch Frau E. „So, dann komm!“, sagt Tochter Martina, „Herzlich Willkommen!“, sagt Sozialarbeiterin Silke Verlage. Der Moment fühlt sich ein bisschen feierlich an, Frau E. stützt sich auf ihren Rollator und fragt: „Wir gehen da rein? Ach, du liebe Zeit!“
Es gibt schon ein Namensschild für Frau E. an der Haus- und eines an ihrer Zimmertür. Sie haben den Raum gestrichen, ganz hinten links, und als erstes fällt der Blick der 84-Jährigen auf die Couch: „Ich hab’ die gleiche zuhause!“ Kein Ohr für die Tochter, die noch widerspricht: „Das ist doch deine!“, dafür ein frohes Lachen für alle Menschen hier, die „die Neue“ mustern. „Kommen Sie rein, können Sie rausgucken!“ Frau E. lässt sich auf ihr Sofa fallen, strahlt in die Runde. „Schön hier, ne?“, fragt Martina Tolba etwas nervös, „schöne Couch“, sagt Silke Verlage, die das Betreuungsteam leitet.
Ankommen in der Demenz-WG: Das rote Sofa ist schon da
Martina Tolba bezieht das Pflegebett, für das sie tüchtig hat kämpfen müssen bei der Pflegekasse, aber jetzt steht es da. Rötliche Wäsche, sie muss ja zum Sofa passen, das Lila aus Recklinghausen, wo es noch ein Schlafzimmer gab, geht nicht mehr. Aber wo ist die Tüte? „198 Teile im Kopf, aber das Bettzeug vergessen“, murmelt die Tochter, es liegt dann doch auf dem Schrank. Neben dem Werkzeug, sie müssen noch die Jalousien an die Fenster bringen. Und die Familienbilder aufhängen über dem Kopfende des Betts. Und das rosa Gemälde über die Couch. „Macht doch die Wände nicht so voll!“, hat Mario gewarnt, der Lebensgefährte der Tochter. „Aber das ist doch ihr’s!“ Die Mama soll sich schließlich wohlfühlen. „Recht schönen Dank auch“, sagt Frau E., die ein Glas gelben Sprudel bekommt.
Und schon lockt Silke Verlage mit Kaffee und Kuchen, „das ist ein gutes Angebot“, sagt Frau E. Jemand bringt sie zu einem Stuhl, aber Frau E. dreht erst eine Runde um den großen Tisch herum. Allen, die da schon sitzen, gibt sie die Hand, streichelt über fremde Wangen, lacht jeden herzlich an. Als der Mann neben ihr hustet, legt sie ihm beruhigend die Hand auf den Arm, der Frau an ihrer anderen Seite will sie gleich beim Essen helfen. Es ist, als sei Frau E. schon immer in dieser WG gewesen. Ab heute sind sie hier wieder zu acht.
In der Wohngemeinschaft sind sie seit heute wieder zu acht
„Jetzt kann ich wohl nach Hause gehen“, sagt Tochter Martina. Sie darf nicht näher an den Tisch, es fühlt sich an, als gehöre sie nicht dazu, als würde sie „von meiner Mama getrennt“: Es ist wegen Corona. Um irgendwas zu tun, packt sie den Hasen aus der Schuhhülle, er ist doppelt so groß wie der Kuchenteller, die Ohren aus Keramik, der Bauch aus Plüsch. „Ach, hier ist das Mädchen!“, Frau E. ist entzückt, „gestern hieß der noch Bruno“, sagt Frau Tolba. Ihre Mutter hatte zuhause schon mit dem Hasen gesprochen aus lauter Einsamkeit, nun reicht sie ihn herum wie eine Trophäe. Jeder darf ihn mal anfassen, vorsichtig, er hat schon eine Macke auf der Backe. „Das macht ja nichts“, sagt Frau E., „das ist ein Knutschfleck“, sagt Herr D. aus dem Zimmer nebenan.
Mit Herrn D. schält sie am dritten Tag Kartoffeln, es gibt Suppe zum Mittag und am Freitag Fisch. Herr D. malt auch, wie Frau E., aber lieber alleine. Bei ihm ist alles voller Bilder, Farben, Kleckse; nebenan steht jetzt die alte Uhr, ein Erbstück der Oma von Frau E., zuletzt repariert 1931, steht auf der Rückseite. Auf der Fensterbank sitzt der große Harlekin, einen eigenen Fernseher gibt es nicht. „Dieses Blabla“, hatte Frau E. zuletzt geklagt, es hat sie aufgeregt. Zum Wochenende taucht auch eine Schale auf in ihrem Regal, die ihr nicht gehört – und die kleine Kuhglocke, die eigentlich an der WG-Tür hängt. „Sie räumt immer noch“, sagt Martina Tolba.
Auf der Suche nach einer Erinnerung
Was ist, wenn sie wegläuft aus Gelsenkirchen, haben andere Leute die Tochter gefragt, was, wenn sie ins Hafenbecken fällt...? „Die Tür ist offen, sie kann raus“, hat sie geantwortet. „Ich will meine Mama nicht einsperren. Sie ist eine erwachsene Frau, die ein bisschen behütet werden muss.“ Martina Tolba weiß aus ihrer Berufserfahrung: „Es gibt nichts Schlimmeres, als fixiert zu werden.“ Man spricht ja auch nicht mehr vom „Weglaufen“, Experten sagen jetzt „Hinlaufen“, weil sie wissen: Der demente Mensch sucht etwas, aus seiner Erinnerung, aus seiner Vergangenheit.
In den ersten Tagen läuft Frau E. zweimal irgendwo hin, sie schläft schlecht. Das war schon in der alten Wohnung so, aber nun fällt es auf, es ist ja immer jemand da. Als sie an einem Abend die Jacke anzieht, begleiten sie die alte Frau zurück auf ihr Sofa, geben ihr Zeitschriften: „Es ist alles erledigt“, sagen sie ihr beruhigend, „Sie müssen nirgendwo mehr hin.“ In der Woche, in der Frau E. ankommt in der Demenz-WG, hat auch ihr Urenkel seine Eingewöhnungsphase: Der kleine Nael, der nächste Woche drei Jahre alt wird, geht jetzt in den Kindergarten.
Die Tochter muss sich selbst Trost zusprechen: „Du hast alles richtig gemacht“
„Mein Herz blutet“, sagt Martina Tolba. Sie hat lange gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem sie die Mama in andere Hände geben muss, sie hat sich gesträubt. Sie hat viel geweint und ist gleichzeitig froh, dass alles geklappt hat „ohne viel Theater“. Nun sitzt sie da mit all’ den Papieren, die sie noch sortieren muss und dem vollen Keller, in den „kein Blatt mehr“ passt.
Irgendwo in den Ordnern hat sie auch die Kosten-Aufstellung, die sich zuletzt schon wieder geändert hat, weil die Preise steigen. Für Betreuung, Miete, Hauswirtschaftsgeld kommen im Monat 3.733,40 Euro zusammen, finanziert aus der (Witwen-)Rente von Frau E. und vom Sozialamt. Die Pflege und nötige Sachleistungen zahlt die Pflegekasse, noch einmal gut 2000 Euro.
Auch interessant
Nach und nach wird Martina Tolba das alles durchsehen, einen Karton nach dem anderen holen und auspacken – und dann endlich wieder Zeit haben, mit ihrer Mutter entspannt zu sein. Mit ihr ins Café zu gehen, um Kakao zu trinken und ein Milchhörnchen zu essen, wie sie es so gern mag. Oder in den Zoo. „Martina“, sagt sie zu sich selbst, wenn sie wieder zweifelt, „du hast alles richtig gemacht.“ Auch Tochter Jessica sagt ihr, die Oma sei jetzt gut aufgehoben. „Aber es ist trotzdem schwer.“ Jedes Mal, wenn sie „meine Mama“ in die WG zurückbringt, mit entschlossenem Schritt. Jedes Mal, wenn sie sich von ihr verabschiedet. „Wie, jetzt soll ich hier alleine bleiben?“, hat sie gefragt.
Ihre Wohnung in Recklinghausen hat Frau E. mit keinem Wort mehr erwähnt.
>>INFO: DEMENZ – NICHT NUR DER VERLUST VON ERINNERUNGEN
Mit „Demenz“ wird ein Abbau und Verlust kognitiver Fähigkeiten bezeichnet, die ein Mensch im Laufe des Lebens erlernt hat. Dazu gehören Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Merkfähigkeit, Orientierung, Urteilsvermögen und planendes Handeln, aber auch Sprache, Motorik und die Fähigkeit zum sozialen Austausch mit anderen. Der Verlust und damit die (Wesens-)Veränderung einer Person schreitet mit der Zeit voran und beeinträchtigt den Alltag der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen.
Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit, es gibt aber auch andere Arten, die verschiedene Ursachen haben. Die Krankheit kann in jedem Alter auftreten, aber das Risiko steigt mit den Lebensjahren stark an.