Essen. Krisen ohne Ende, gerade junge Menschen fühlen sich zunehmend belastet. Dabei ist die Situation nicht „dramatisch neu“, sagt der Bochumer Psychologe Jürgen Margraf.

Corona, Krieg, Klimawandel, Kostenexplosion -- eine schlechte Nachricht reiht sich gefühlt an die andere, eine Katastrophe an die nächste. Die Menschen im Revier spüren längst in aller Deutlichkeit, dass globale Krisen sie auch persönlich betreffen. Viele sehen die Zukunft in düsteren Farben, manche fürchten um die eigene Existenz. Was tun gegen die Angst vor der Zukunft, wie umgehen mit all den schlechten Nachrichten? Das fragten wir wir bereits im August 2022 Prof. Jürgen Margraf, damals Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum. (Dieser Text erschien erstmals am 24. August 2022 auf waz.de)

Ist die aktuelle Lage – aus Psychologen-Perspektive – eine außergewöhnliche?

Margraf: Dass wir Ängste entwickeln in Krisen ist völlig normal. Ob die derzeitige Situation tatsächlich eine ganz neue ist, bezweifele ich. Ich denke eher, wir wachen gerade aus einer Lebenslüge auf. Es hat die ganze Zeit Kriege gegeben und wir verschmutzen unseren Planeten schon sehr lange. Die Lage ist nicht so dramatisch neu, wie sie oft dargestellt wird. Manche im Ausland sagen, wir Deutschen neigten zur Hysterie…

Sehen Sie in der therapeutischen Arbeit vor Ort mehr Menschen mit Zukunftsängsten als früher?

Ja, aber das war zu erwarten, es werden sogar noch mehr werden. Das passiert immer mit etwas Verzögerung, bei Corona sind wir nun so weit. In Krisen wird erst der Zusammenhalt stärker. Wenn das wieder nachlässt, rücken die wirtschaftlichen Folgen stärker in den Fokus -- und das kann zu psychischen Problemen führen.

Prof. Dr. Jürgen Margraf, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum: Den Kopf in den Sand zu stecken hilft genauso wenig wie  Alarmismus, sagt er.
Prof. Dr. Jürgen Margraf, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum: Den Kopf in den Sand zu stecken hilft genauso wenig wie Alarmismus, sagt er. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Was machen die vielen schlechten Nachrichten mit uns?

Grundsätzlich: Zwei Drittel aller Menschen kommen gut klar mit Herausforderungen wie den aktuellen, sie können Ressourcen aktivieren, die ihnen helfen, sie zu bewältigen. Ungefähr ein Drittel hat Schwierigkeiten damit. Wenn Betroffene empfinden, dass sie keine Kontrolle mehr über wichtige Lebensbereiche haben und sie nicht wissen, wie es ausgeht, dann kommt es zu Ängsten.

Wenn mich die aktuellen Nachrichten belasten – sollte ich sie dann vielleicht besser ausblenden, also kein Fernsehen schauen, keine Zeitung lesen?

Sie sollten sich vernünftig informieren und vor allem nicht der Versuchung erliegen, das auf Social-Media-Kanälen zu tun. Sich einmal am Tag über ein Qualitätsmedium auf Stand zu bringen, ist ein vernünftiges Maß.

Hilft gegen das Unbehagen im Bauch womöglich der Kopf, sich rational mit seinen Problemen zu befassen?

Ja. Es hilft immer, sich zu überlegen, was man tun kann, damit es einem besser geht. In dem „Gelassenheitsgebet“ des US-Theologen Reinold Niebuhr („Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“, die Red.) steckt ganz viel Wichtiges. Es nicht immer leicht, das eine vom anderen zu unterscheiden. Was zu ändern ist, sollte man aber tatkräftig angehen und alles andere akzeptieren. Gerade was den Klimawandel angeht, beschleunigt die aktuelle Entwicklung womöglich solche Prozesse, steckt in der Krise unsere Chance. Was gerade geschieht, hilft zu erkennen, dass wir reagieren müssen.

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Im Winter die Wohnung nicht heizen zu können, ist eine sehr konkrete, angesichts der angekündigten Preiserhöhungen für Gas nicht unbegründete Sorge vieler Menschen mit wenig Geld. Wie kann man verhindern, dass eine solche Sorge den Alltag komplett überschattet?

Es hilft, aktiv zu sein. Informieren Sie sich beispielsweise, wie Sie auch als Minijobber an staatliche Energiehilfen kommen. Überlegen Sie, ob es im Wohnzimmer 24 Grad warm sein muss oder ob es nicht vielleicht doch ein Pullover tut. Denken Sie, daran, dass auch unsere Eltern oder Großeltern mit Weltkrieg, Flucht und Vertreibung schon große Krisen überstanden haben. Machen Sie sich klar: Die Situation ist ernst, aber bewältigbar.

Welche konkreten Strategien zur Krisenbewältigung empfehlen Psychologen?

Manche Menschen in Krisen neigen zu übertriebenem Alarmismus, andere stecken sehr gern den Kopf in den Sand. Beide Pole gilt es zu vermeiden. Entscheidend für die psychische Gesundheit ist die subjektive Wahrnehmung von Kontrolle und Vorhersagbarkeit. Damit geht es Ihnen besser, als wenn sie sich hilflos fühlen.

Sich das eigene Häuschen im Grünen wegen der steigenden Zinsen und Immobilienpreise niemals leisten zu können, treibt manche junge Familie um. Und geplatzte Träume machen frustriert…

Das macht absolut Frust, richtig. Aber in der Jugend glaubt man an die Zukunft, das fällt es leichter, damit umzugehen. Ein Rentner, der lebenslang für das Haus gespart hat, in dem er lebt, und der es nun vielleicht aufgeben muss, weil ihm der Unterhalt dafür unmöglich wird, hat es schwerer.

Bringen kleine Auszeiten etwas? Was kann ein netter Abend mit Freunden, ein Wohlfühl-Bad im Kerzenschein oder eine Runde Auspowern beim Sport großartig ändern?

Jeder Mensch braucht auch Selbstfürsorge. Gerade das Arbeiten an der eigenen Widerstandskraft ist sehr wichtig. Es stärkt, etwas für sich zu tun. Vertrauensvolle Beziehungen, nicht nur die eine große, sondern die, die den Alltag nett machen, sind ebenfalls entscheidend. So platt es klingt, auch Bewegung, gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf helfen uns, Krisen zu überstehen. Die meisten von uns sind erstaunlich stark und können viel wegstecken.

Und wenn all das doch nicht funktioniert? Woran merke ich, dass ich allein mit meinen Ängsten nicht mehr klarkomme?

Ängste und Sorgen hat jeder. Wenn Sie merken, dass Sie viel Zeit mit Grübeln verbringen; wenn Sie denken, dass die Situation nicht mehr kontrollierbar ist; wenn Sie leiden; wenn Sie Ihre alltäglichen Aufgaben nicht mehr erfüllen können – dann ist es zu viel. Sprechen Sie dann mit jemandem über Ihre Ängste – ohne sich dabei gegenseitig hochzuschaukeln. Wenn das nicht hilft, lassen Sie sich professionell beraten, in einer kirchlichen oder politischen Gruppe vielleicht, dass muss gar nicht unbedingt ein Psychologe sein. An den oder die sollte sich aber unbedingt wenden, wer nur noch grübelt – Menschen mit generalisierten Angststörungen verbringen damit bis zu sechs Stunden am Tag und das macht ihnen dann noch zusätzlich Angst und lähmt sie in ihrem Alltag.

Wie kann eine Psychologin, ein Psychotherapeut helfen?

Angstpatienten kreisen in einer Endlosschleife aus immer neuen Sorgen, die zu weiteren neuen Sorgen führen. Wenn man es schafft, eine Sorge einmal bis ganz zum Ende durchzudenken, dann ist das oft der entscheidende Durchbruch. Das ist oft echte Arbeit, aber dabei können wir helfen. Vielleicht auch dabei – um noch einmal auf Niebuhr zurückzukommen – zu erkennen, was zu ändern ist und was nicht.