Bochum. Jeder Dritte wird psychisch krank. Der Bund will deshalb ein Zentrum für psychische Gesundheit gründen. Die Ruhr-Uni bewirbt sich.

Was Corona mit der Seele macht, ist vielfach beschrieben worden. Der Verlust sozialer Kontakte in den Lockdowns setzt besonders Menschen mit Depressionen und Angststörungen zu. Doch schon vor der Pandemie rückten Erkrankungen der Psyche zunehmend in den Blick von Gesundheitsexperten. Längst gelten psychische Störungen als Volkskrankheit, so weit verbreitete wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs.

Jeder Dritte wird psychisch krank

https://www.waz.de/panorama/wissenschaft/zunahme-von-depressionen-und-angststoerungen-durch-corona-id230546570.html Laut Bundesforschungsministerium leidet mehr als ein Drittel aller Deutschen mindestens einmal an einer psychischen Erkrankung. Deshalb soll das bestehende Netzwerk der sechs nationalen Gesundheitsforschungszentren um das Forschungsgebiet psychische Gesundheit erweitert werden. Im Juni startete ein entsprechender Wettbewerb unter deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen. Ihren Hut in den Ring geworfen hat auch die renommierte Fakultät für klinische Psychologie und Psychotherapie der Ruhr-Universität.

Einfluss von Alltag und Lebenswirklichkeit auf die psychische Verfassung des Patienten

Das Team um die Professoren Silvia Schneider und Jürgen Margraf tritt mit einem Konzept an, das bei der Bekämpfung psychischer Krankheiten psychotherapeutische und psychosoziale Ansätze in den Mittelpunkt stellt. Im Kern geht es um die Therapieform des Gesprächs und den Einfluss von Alltag und Lebenswirklichkeit auf die psychische Verfassung des Patienten. „Ich habe nichts gegen Medikamente. Aber die beste Behandlung von psychischen Erkrankungen ist die psychologische“, sagt Prof. Margraf. Viele Menschen hätten völlig falsche Vorstellungen von psychischen Störungen. „Das sind Krankheiten, die sieht man nicht, nicht einmal unterm Mikroskop“, so Margraf, der auch Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina ist.

Verschreibungszahlen von Antidepressiva steigen

Der Forscher sieht es kritisch, dass die Verschreibungszahlen von Antidepressiva trotz zunehmender gesellschaftlicher Offenheit gegenüber Psychotherapie weiter stark steigen. Margraf: „Es gibt eine flächendeckende Versorgung mit Psychopharmaka, aber einen eklatanten Mangel an klinisch ausgebildeten Psychotherapeuten.“ Margraf spielt auf fehlende Therapieplätze an, die gerade im Ruhrgebiet ein Problem sind. Oft kommt es hier zu monatelangen Wartezeiten. Seit Jahren klagen auch Berufsverbände und Patientenschützer darüber, dass die Zahl niedergelassener Psychotherapeuten im Revier zu niedrig sei.

https://www.waz.de/staedte/bochum/bochumer-psychologe-verraet-zeichen-fuer-eine-angststoerung-id230483390.html All diese Erkenntnisse spielen bei der Bewerbung der Bochumer eine Rolle. Als Standort für ein nationales Zentrum zur Erforschung und Behandlung psychischer Krankheiten sehen die Forscher die Ruhr-Universität und das Ruhrgebiet gut gerüstet. Die RUB-Psychotherapeuten bilden eine starke Fakultät. Allein im von Silvia Schneider geleiteten Bochumer Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit forschen über 50 Therapeuten und behandeln dort rund 3000 Patienten jährlich.

Kooperationspartner aus der Region

Das Ruhrgebiet als großer Ballungsraum bietet sich aus Sicht der Wissenschaftler zudem als ideale Studienregion an. „Hier leben viele und sehr unterschiedliche Menschen in verschiedensten Milieus. Auch die Bereitschaft, sich an psychologischen Studien zu beteiligen, ist hoch“, weiß Margraf aus Erfahrung. Außerdem haben sich die Bochumer namhafte Kooperationspartner aus der Region wie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund und das Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der Dortmunder TU mit ins Boot geholt.

Die Konkurrenz ist groß

Allerdings ist die Konkurrenz groß. Unter den Mitbewerbern findet man die allerersten Adressen der deutschen Forschungslandschaft auf dem Fachgebiet, darunter Berlin, München und Mannheim. Das Forscher-Ehepaar rechnet sich allerdings mit ihrem psychologischen Konzept gute Chancen aus. „Das ist unser Alleinstellungsmerkmal“, so Silvia Schneider, die Projektleiterin der Bewerbung ist.

Vorentscheidung fällt im Frühjahr

https://www.waz.de/staedte/essen/depression-neue-hilfe-fuer-betroffene-in-corona-zeiten-id229282754.html Sollte Bochum den Zuschlag bekommen, etwa als Teil eines Netzwerkes von Forschungseinrichtungen, wäre das nach Einschätzung Schneiders ein großer Gewinn für die Wissenschaftsregion Ruhrgebiet. Ein solches Zentrum würde weitere hochkarätige Forscher an die Ruhr locken in einem Fachbereich, mit dem die alte Industrieregion bislang weniger in Verbindung gebracht wird. Zudem winken Forschungsgelder von 30 Millionen Euro im Jahr. Schneider: „Der Standort würde national und international stark aufgewertet.“ Die Bochumer rechnen mit einer ersten Vorentscheidung bereits im kommenden Frühjahr. Endgültig vergeben wird der Standort Anfang 2022.


>>>>>>> Info: Derzeit gibt es insgesamt sechs nationale Zentren der Gesundheitsforschung, je eins für Infektionskrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenkrankheiten, Krebs Neurodegenerative Erkrankungen und für Diabetesforschung. In den Zentren sollen die besten Wissenschaftler interdisziplinär zusammenarbeiten. Ziel ist es, neue medizinische Forschungsergebnisse schneller in die Anwendung beim Patienten zu bringen.