Bochum. Der Umzug ins Heim: für viele alte Menschen ein Horrorszenario. Gisela Jewerhoff (82) blühte dort wieder auf. Und das ist nicht einmal untypisch.

Gisela Jewerhoffs Sohn hat das damals alles organisiert. Die Wohnung seiner Mutter aufgelöst, sie erst in der Kurzzeitpflege untergebracht, ihr dann einen Heimplatz besorgt, als die Ärzte sagten: Es geht nicht mehr allein. Vor fast genau einem Jahr zog die 82-Jährige aus dem eigenen Zuhause ins Bochumer St. Anna Stift. Heute sagt sie: „Das hier, das Altenheim, das ist meins. Hier bin ich endlich wieder glücklich.“

Immer war sie aktiv, stets „auf Achse“. Mit ihrem ersten Mann und den beiden Kindern lebte die gelernte Bankkauffrau, eine gebürtige Kölnerin, lange im Aus-, später im Münsterland. Neben der Arbeit in der Bank engagierte sie sich politisch, wirkte als Geschäftsführerin im Wahlkreis des damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Wilhelm Peter Stommel; heiratete ein zweites Mal, nachdem der erste Mann jung gestorben war; zog nach Bochum. „Aber vor elf Jahren“, sagt Gisela Jewerhoff, „starb auch mein zweiter Mann, an unserem 30. Hochzeitstag.... Und ich blieb allein zurück.“

„Alleinsein ist grausam. Ich wurde richtig deprimiert“

Tatjana Werbitzki mit Gisela Jewerhoff und Hase Pünktchen im Garten des Heims. Hier leben auch Fische, Papageien, Katzen und Hunde. Für „Carlo“ den Husky, sagt Jewerhoff, habe sie immer Futter in der Tasche.
Tatjana Werbitzki mit Gisela Jewerhoff und Hase Pünktchen im Garten des Heims. Hier leben auch Fische, Papageien, Katzen und Hunde. Für „Carlo“ den Husky, sagt Jewerhoff, habe sie immer Futter in der Tasche. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Anfangs, erinnert sich die alte Dame beim Gespräch im Weinreben-umrankten Garten-Pavillon des Anna-Stifts, habe sie die Einsamkeit nicht als Problem empfunden. „Ich kam gut zurecht, verstand auch, dass meine Kinder und ihre Familien eigene Probleme haben, nicht jedes Wochenende aus Köln zu mir kommen konnten.“ Doch vor zwei Jahren ging es der dreifachen Urgroßmutter gesundheitlich immer schlechter: das Herz, die Augen, Parkinson, Diabetes... „Scheinbar grundlos wurde ich ständig bewusstlos, kippte einfach so um, egal wo ich war.“ Mit ihrem Rollator traute sie sich schließlich kaum noch aus dem Haus, sah nur noch die Putzhilfe, die gelegentlich vorbeikam, mochte irgendwann auch nicht mehr reden, nicht mehr lesen, nicht kochen. „Alleinsein ist grausam“, sagt Gisela Jewerhoff. „Ich wurde richtig deprimiert. Noch wenn ich heute an die letzten Jahre in meiner alten Wohnung denke, krieg’ ich das Frieren.““

Rafael Schygulla, Pflegekraft seit 23 Jahren, leitete den Wohnbereich „Dorothea“: 34 Männer und Frauen leben dort, insgesamt zählt das Bochumer St. Anna Stift 140 Bewohner. Geschichten wie die von Gisela Jewerhoff nennt er „motivierend“.
Rafael Schygulla, Pflegekraft seit 23 Jahren, leitete den Wohnbereich „Dorothea“: 34 Männer und Frauen leben dort, insgesamt zählt das Bochumer St. Anna Stift 140 Bewohner. Geschichten wie die von Gisela Jewerhoff nennt er „motivierend“. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Als sie im Juli 2021 eines Nachts bewusstlos aus dem Bett fiel, auf den Kopf; mit gebrochenen Knochen, verschluckten Zähnen, völlig durcheinander erst im Krankenhaus und danach im St. Anna Stift landete, brachte das die Wende. „Jetzt bist Du zuhause“, habe sie sich gesagt, gleich, als Pfleger Rafael Schygulla, Leiter des Wohnbereichs „Dorothea“, ihr beim Einzug Zimmer 3.19 zeigte, an dem nun ihr Name steht. Mit ihrem Schlüssel öffnet sie es für uns, „obwohl ich heute morgen nicht aufgeräumt habe“: Ein schöner, großer Raum im alten Teil des Seniorenheims ist das, mit eigenem Bad und Balkon. An den Wänden hängen historische Landkarten und Familienfotos; auf einem Schränkchen, das Jewerhoff aus ihrer alten Wohnung mitbrachte, steht feines Porzellan. Ihr Lieblingsplatz ist der Ohrensessel vor dem Fernseher, hier löst die belesene Rentnerin gerne ihre Kreuzworträtsel (mit Hilfe einer große Lupe).

„Jeder Tag hält eine kleine Überraschung für mich bereit“

Aber meist ist Gisela Jewerhoff ja gar nicht im Zimmer, sondern tatsächlich wieder „auf Achse“. Unterwegs im Garten, wo die beiden Heim-Hasen leben („Herrlich, seit 70 Jahren hatte ich kein Karnickel mehr auf dem Schoß!“) und selbstgezogene Tomaten oder Beeren auf Naschkatzen wie sie warten; oder auf einem Ausflug, etwa zum Wochenmarkt. Dreimal täglich trainiert sie auf dem Rad-Ergometer, verpasst deswegen aber kaum eine angebotene Aktivität. Vor allem die Gesprächsrunden mit dem Pastor haben es der gläubigen Christin angetan, „weil er uns so schön reden lässt“. In diesem Juli war sie sogar erstmals auch wieder ganz alleine spazieren, „eine Runde um den Block“. „Jeder Tag ist anders“, strahlt die alte Dame. „Jeder hält eine kleine Überraschung für mich bereit.“

Tatjana Werbitzki ist Sozialbetreuerin im St. Anna Stift, einer Einrichtung des Katholischen Klinikums Bochum. „Viele unserer Bewohner werden hier besser“, sagt sie, „aber Frau Jewerhoff hat eine außerordentliche Entwicklung gemacht. Sie untertreibt noch, wenn sie von ihren Fortschritten erzählt, sie malt inzwischen ja sogar wieder und schreibt Gedichte, hat sich unlängst zudem für den Heimbewohnerbeirat aufstellen lassen.“ Inzwischen helfe die 82-Jährige sogar den Neuen, die sich schwer täten, bei der Eingewöhnung, berichtet Rafael Schygulla. „Mein Gehirn ist halt wieder wach“, sagt Jewerhoff.

Expertin: Die stationäre Altenpflege hat ein sehr schlechtes Image

Solche Bewohnerinnen oder die Geschichte jener „netten, nie verheirateten Jungfer in ihren Achtzigern“, die vor sieben Jahren im Anna-Stift einen Herrn Mitte 90 kennen und lieben lernte, motivierten ihn, als Pflegekraft in einem Job durchzuhalten, der von Jahr zu Jahr schwieriger würde. Die Jungfer und ihr Verehrer zogen erst zusammen in ein Zimmer, heirateten dann in der Haus-eigenen Kapelle – und suchten sich schließlich eine gemeinsame Wohnung außerhalb des Heims.

Dass alte Menschen in einer Senioren-Einrichtung „aufblühen“, wieder Freude am Leben finden, passiere tatsächlich „gar nicht so selten“, sagt Rebecca Palm, Professorin für Pflegewissenschaft (Schwerpunkt Praxisentwicklung) an der Uni Witten/Herdecke. „Die stationäre Altenpflege hat ein sehr schlechtes Image, der Umzug ins Heim ist für viele ein Horrorszenario. Aber Studien zeigen, da kann es auch besser werden. Das ist nicht untypisch.“ Wobei sie auch Negativbeispiele kennt und einräumt, dass Forscher ihre Eindrücke gern „in guten Einrichtungen“ gewinnen.

„Umzug erfordert komplexe Anpassung“

Lieblingsplatz: Ein paar Möbel aus ihrer alten Wohnung brachte Gisela Jewerhoff mit ins St. Anna Stift. Ihre Kreuzworträtsel löst sie am liebsten in diesem Sessel.
Lieblingsplatz: Ein paar Möbel aus ihrer alten Wohnung brachte Gisela Jewerhoff mit ins St. Anna Stift. Ihre Kreuzworträtsel löst sie am liebsten in diesem Sessel. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Doch Einsamkeit und Mobilitätseinschränkung trieben Menschen in die „soziale Deprivation“. „In der Pflegeeinrichtung träfen sie – oft nach langer Zeit – erstmals wieder auf andere, die in der gleichen Situation sind. Allein das helfe schon. „Aber dann gibt es da ja auch noch Profis, die sie gezielt fördern, genau erkennen, was sie wirklich brauchen.“ Pflege und Sozialer Dienst seien dafür ausgebildet, sie leisteten, „was zu Hause nicht leistbar ist“. Mancher, der das nicht wüsste, sei daher „positiv überrascht“, wenn er ins Seniorenheim umsiedele.

Immer aber, so Palm, erfordere der Umzug eine „komplexe Anpassung“, eine, die Menschen im hohen Alter nicht leicht fiele. „Und mancher mag vielleicht auch keine Gesellschaft, liebt dafür seine ganz individuelle Tagesgestaltung. Und dann tut der sich in einer Einrichtung schwer.“

Rat: Nutzen Sie die tollen Angebote offener Konzepte

Der Abschied vom eigenen Zuhause, an dem Erinnerungen und Emotionen hingen, gehe zudem immer einher mit einem Verlust an Autonomie. „Im Heim kann man nicht um 16 Uhr frühstücken!“ Dass man mit Wohnung oder Haus auch Verpflichtungen los werde, die man längst mehr tragen kann, „sehen viele nicht auf den ersten Blick“.

Die Wissenschaftlerin rät dazu, auch wenn es „noch nicht soweit“ sei, das Heim in der Nähe schon einmal auf einen Kaffee zu besuchen oder dem Friseur dort einen Besuch abzustatten. „Viele Einrichtungen haben tolle offene Konzepte im Quartier. Die sollte man wahrnehmen!“

Da stimmt Gisela Jewerhoff mit der Professorin überein, empfiehlt persönlich ein „Wohnen auf Probe“: „Ist möglich und Sie werden sehen, ist wunderbar!“ Im Übrigen: Sucht sie noch zwei Skat-Partner.