Bochum/Berlin. Eine neue „Leitlinie“ zur „Priorisierung“ in der Krebsversorgung während der Pandemie soll Entscheidungsträger entlasten und Patienten stärken.

Krebskrank in der Pandemie – furchtbar für Betroffene. Doch ihre Versorgung ist auch eine Herausforderung für Kliniken und Praxen. Gerade jetzt, da die Infektionszahlen zurückgehen, glaubt Prof. Anke Reinacher-Schick, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistischer Onkologen (AIO). Unter Federführung der Bochumer Onkologin entstand jetzt eine „Leitlinie“ zur „Priorisierung und Ressourcenallokation im Kontext der Pandemie“, eine Art Handlungsempfehlung für den Fall der Fälle, „am Beispiel gastrointestinaler Tumoren“.

„Die Krebsversorgung in Deutschland ist gesichert“, betont die Direktorin der Klinik für Onkologie, Hämatologie und Palliativmedizin des Universitätsklinikums St. Josef-Hospital. Eng werden könnte es trotzdem, hier und da, „in einzelnen Einrichtungen, regional“. Schuld ist nicht nur Corona. Seit Jahren schon steigt die Zahl der Krebserkrankungen.

AOK: Zahl der Darmspiegelungen sank in der Pandemie um 15 Prozent

Zugleich sank die Zahl der Krebs-Operationen und die der Vor- und Nachsorgeuntersuchungen während der Pandemie; die der Darmspiegelungen etwa laut Daten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK um 15 Prozent (2020, im Vergleich zu 2019). Viele Menschen trauten sich aus Angst von einer Ansteckung mit dem Corona-Virus nicht zum Arzt. Viele kamen darum erst, als die Symptome gar nicht mehr zu ignorieren waren. Da war ihre Erkrankung aber oft bereits weit fortgeschritten, hatte der Krebs nicht selten schon gestreut.

Prof. Anke Reinacher-Schick: Die Direktorin der Klinik für Onkologie, Hämatologie und Palliativmedizin im Bochumer St. Josef-Hospital ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistischer Onkologen. Sie betont: Die Krebsversorgung ist gesichert, auch wenn es mal eng wird.
Prof. Anke Reinacher-Schick: Die Direktorin der Klinik für Onkologie, Hämatologie und Palliativmedizin im Bochumer St. Josef-Hospital ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Internistischer Onkologen. Sie betont: Die Krebsversorgung ist gesichert, auch wenn es mal eng wird.

Reinacher-Schick erinnert sich an eine alte, schwache, völlig abgemagerte Dame, die sie nach dem ersten Lockdown auf ihrer Station aufnahm. Sie fand einen Bauchspeicheldrüsentumor bei der Frau – und Metastasen in ihrem ganzen Körper. Die Patientin starb, sie war nicht mehr zu retten. Ihren Kindern hatte sie Schmerzen und Gewichtsverlust lange verschwiegen, „aus Sorge, die Familie würde sie deshalb ins Krankenhaus schicken und sie sich dort mit Corona infizieren“.

„Wir schieben eine Bugwelle vor uns her“

Diagnostik und „eigentlich schon früher notwendige Behandlungen“ müssten nachgeholt werden, sagt Reinacher-Schick. Sie spricht von einer „Bugwelle“, die Kliniken und Praxen vor sich her schieben, einem Rückstau, der nun zusammen mit der steigenden Zahl der Neuerkrankungen und den enormen Personalausfällen bewältigt werden müsste. Wegen Quarantäne oder Isolation fehlten aktuell viele Kollegen; „einige Ärzte und Ärztinnen, viele Pflegekräfte haben wir aber auch durch Frust und Mehrbelastung in der Pandemie ganz verloren“, so die Expertin.

Die neue Leitlinie, hervorgegangen aus dem „Cancer Covid“-Forschungsprojekt von Prof. Jan Schildhauer (Uni Halle), liefert detaillierte und konkrete, wissenschaftlich begründete Empfehlungen, wer mit niedriger, mittlerer oder hoher Dringlichkeit zu versorgen ist, wenn die Kapazitäten nicht mehr für alle gleichzeitig reichen sollten. Richtschnur sind dabei: Vermeidung und Verringerung möglicher Schäden für den einzelnen Patienten, die Erfolgsaussichten der Behandlung sowie die Prüfung alternativer Verfahren.

Keine „Triage“ für OP, Chemo, Bestrahlung, Immuntherapie oder Palliativbetreuung

Entschieden werden soll immer nach dem „Mehraugen-Prinzip“, die Verschiebung einer Therapie oder OP muss zudem stets genau terminiert sein. „Und das alles greift erst, wenn die Ressourcenknappheit gar nicht mehr anders zu kompensieren ist, also andere Kliniken oder Praxen nicht mehr helfen können“, beteuert Reinacher-Schick. Als „Triage“ für Operationen, Chemo, Bestrahlung, Immuntherapie oder Palliativbetreuung möchte sie die Leitlinie nicht verstanden wissen. „Es geht hier nicht darum, dass jemandem Behandlung oder Bett verwehrt wird, und er deswegen stirbt.“

Aber die reguläre Nachsorge-Untersuchung eines Krebspatienten, der seit drei Jahren tumorfrei sei, könnte bedenkenlos um zwei Wochen verschoben werden, wenn es eng wird – und man ihm die Lage ordentlich erkläre. Dass wochenlang allein gelassen werde, wer gerade erfahren habe, dass er Krebs hat, müsse niemand befürchten. „Erstdiagnosen und jeder symptomatische Patient haben die höchste Dringlichkeit“, erklärt Reinacher-Schick. Sie denkt, dass die patientenorientierte Leitlinie niemanden erschrecke, sondern im Gegenteil: dass sie das Vertrauen Erkrankter in die Medizin stärke. „Früher wurde im Einzelfall entschieden, puzzelte jeder Arzt so vor sich hin. Die neue Leitlinie schafft Daten-basierte Transparenz und Verbindlichkeit.“

30 Fachgesellschaften und Bundesforschungsministerium beteiligt

30 Fachgesellschaften waren an der Entwicklung beteiligt; das Bundesforschungsministerium gab Geld; Juristen, Ethiker, Palliativmediziner, Psychoonkologen und Pflege-Experten wurden eingebunden. „Bei letzteren“, sagt Reinacher-Schick, „kommt die Not der Patienten ja vor allem an. Und die Pflegenden leiden darunter.“ Yvonne Ludwig, eine junge Stationsleiterin im Josef-Hospital, saß zusammen mit Prof. Schildhauer und Prof. Reinacher-Schick auf dem Podium, als die Leitlinie Ende April in Berlin öffentlich vorgestellt wurde. Sie nennt die Handlungsempfehlungen „eine große Unterstützung“ bei der täglichen Arbeit. Onkologische Pflege sei in der Pandemie besonders belastend, eine „ganz erhebliche Herausforderung“. Die neue Leitlinie enthielte nicht nur nützliche Adressen für Patienten und ihre Familien, sondern tatsächlich auch konkrete Unterstützungsangebote für Pflegende. „Ich kenne keine andere Leitlinie, die so konkret auflistet, wo auch wir Hilfe finden“, sagt Ludwig.

Das Werk soll im Herbst aktualisiert werden, ist zudem befristet bis Ende März 2023. Dennoch, glaubt Reinacher-Schick, sei es erst „der Anfang“. „Wir sind mit dem Thema nicht durch. Ressourcenknappheit in der Medizin ist für uns etwas ganz Neues, Überraschendes. Wir hätten uns vor der Pandemie niemals träumen lassen, dass uns einmal die Medikamente ausgehen könnten.“

>>> Info Darmzentrum Ruhr

Die Deutsche Krebsgesellschaft hat das „Darmzentrum Ruhr“im Bochumer St. Josef-Hospital (Leitung: Prof. Anke Reinacher-Schick und Prof. Waldemar Uhl) gerade wieder zu einem der besten Deutschlands gekürt. Um die 1000 Krebsfälle werden hier Jahr für Jahr versorgt.

Einer der Forschungsschwerpunkte ist die medikamentöse Behandlung von Darmkrebs, auch auf dem Gebiet der Immuntherapie. Zusammen mit dem „Comirnaty“-Hersteller Biontech arbeitet man etwa an einer mRNA-basierten Impfung gegen Darmkrebs.