Bochum. In der Diabetes-Therapie hat sich viel getan. Innovative Medikamente, Messtechniken oder Insulinpumpen erleichtern das Leben mit der Krankheit.
Johannes Wenning kam klar. Schließlich hat er 21 Jahre Erfahrung mit Diabetes, er erkrankte mit vier an „Typ 1“. Der Pieks in den Finger, das Messen des Blutzuckers, bis zu 20-mal am Tag, das Berechnen der nötigen Insulindosis, das Spritzen – lästig, ja, aber lang erprobte Routine für ihn. Eine Insulinpumpe? „Wollte ich nicht“, sagt der 25-Jährige. „Ich bin sehr aktiv, mache viel Sport. Ich dachte, dabei stört die nur.“ Offenbar ist das Gegenteil der Fall: Eine Woche, nachdem ihm in der Klinik Blankenstein probeweise dann doch eine Insulinpumpe „verpasst“ wurde, ist Wenning „völlig fasziniert, was geht“. 300-mal täglich misst ein Sensor am Arm nun seine Blutzuckerwerte, übermittelt sie an die Pumpe, diese gibt automatisch und kontinuierlich die richtige Menge Insulin ab. Ein „Algorithmus“ errechnet, wie viel der Patient wann braucht. „Das funktioniert wie eine künstliche Bauchspeicheldrüse, das schafft kein Mensch“, staunt Wenning. Er selbst: tippt nur noch ein, was er isst, in Gramm Kohlenhydrate. Easy.
Über acht Millionen Menschen in Deutschland, zehn Prozent der Bevölkerung leiden an Diabetes, vor allem an Diabetes Typ 2, schätzt man. „Die Dunkelziffer liegt weit höher“, glaubt Privatdozent Johannes Dietrich, Leiter der Sektion für Diabetologie, Endokrinologie und Stoffwechsel am Katholischen Klinikum Bochum (KKB), zu dem die Klinik Blankenstein in Hattingen gehört. Weltweit steigen die Zahlen zudem; die Menschen essen zu viel und falsch, bewegen sich gleichzeitig zu wenig – das „gute Leben“ ist nicht die einzige, aber Hauptursache für diese Entwicklung.
Der Bedarf an Beratung ist darum groß. Denn es hat sich viel getan bei der Behandlung der „Zuckerkrankheit“, seit vor ziemlich genau 100 Jahren zwei Ärzte in Toronto erstmals einem todkranken 14-jährigen Diabetiker mit Rinderinsulin das Leben retteten. Das Bochumer KKB baut daher seinen Diabetologie-Schwerpunkt aus, eröffnete im Februar eine Diabetes-Ambulanz in Blankenstein, die schon jetzt „enorm nachgefragt“ sei; gründete dort gerade zudem das erste „Zentrum für Diabetes-Technologie“ im Revier. Die neuen Technologien will man hier – in Kooperation mit verschiedenen Universitäten und allen großen Unternehmen der Medizintechnik – „zur Verfügung stellen und weiterentwickeln“.
Was also gibt es Neues für Diabetiker? Bessere Medikamente (siehe Zweittext) und hochmoderne, kluge Technik etwa. „Vor allem aber gucken wir heute ganzheitlich auf die Patienten, nicht nur auf ihre Stoffwechsellage“, meint Antonia Vering, Diabetes-Beraterin in der Klinik Blankenstein. Depressionen etwa können Folge oder Ursache der Erkrankung sein, ein Psychosomatiker, eine Psychosomatikerin werde deshalb stets genau wie die Kardiologie hinzugezogen. Schulung, Ernährungs- und Sportprogramm sind für Neu-Diabetiker „Pflicht“.
Blutzucker wird längst auch nicht mehr nur „blutig“ gemessen, erläutert Dietrich, über einen Blutstropfen aus Fingerbeere oder Ohrläppchen. Seit 2014 stehen Glukose-Sensoren zur Verfügung, die über ein Pflaster am Oberarm wenige Millimeter tief ins Unterhautfettgewebe gelegt werden – und kontinuierlich den Gewebezuckerspiegel messen, was direkt oder über eine App abgerufen werden kann. Auf drohende „Entgleisungen“ kann so schneller reagiert werden, zumal viele dieser innovativen Messgeräte mittels Alarm aktiv vor Über- oder Unterzuckerungen warnen. Das schaffe Sicherheit, erklärt Vering, viele Diabetiker fürchteten, etwa nachts gar nicht mitzubekommen, dass sie unterzuckern, bewusstlos zu werden, bevor sie reagieren könnten. „Die Sensor-Technik“, ergänzt Kollegin Sibylle Funken, „lässt sich zudem auslesen und grafisch darstellen. Viel genauer als im handschriftlich geführten Zucker-Tagebuch lassen sich so Schwankungen im Blutzuckerspiegel erkennen – und die Insulindosen entsprechend anpassen.“ Was wichtig ist, denn heute weiß man: entscheidender als ein „guter“ Langzeitwert (HbA1c) ist es, den Blutzuckerspiegel rund um die Uhr möglichst stabil zu halten.
Grundlegend geändert hat sich die Behandlung Insulin-pflichtiger Diabetiker. Während früher zweimal am Tag ein „Misch-Insulin“ gespritzt wurde, ist heute die „Intensivierte Insulintherapie“ Standard, bei der viermal täglich ein schnellwirkendes Insulin zu den Mahlzeiten und darüber hinaus ein Langzeitpräparat gespritzt werden – was den Patienten eine viel flexiblere Ernährung ermöglicht. „Aber zur Zeit verlassen wir auch diesen Weg wieder“, erläutert Dietrich. Für die Zukunft setze man auf „Closed-Loop-Systeme“, die automatisierte Insulingabe über Insulinpumpen – wie die, die Johannes Wenning so begeistert. Patienten, die damit versorgt sind, haben eine bessere Lebensqualität und eine geringere Komplikationsrate, zeigen Studien. Leider, so Dietrich, „ist manchmal noch mühsam, eine solche Therapie bei der Krankenkassen durchzuboxen“.
Die ersten Insulinpumpen waren groß wie ein Rucksack, inzwischen sind sie kleiner als ein Handy, man trägt sie in der Hosentasche. Im Fokus der Forschung, auch in Blankenstein, stehen inzwischen die Algorithmen, die die Pumpen steuern. Selbstlernende „Voll-Closed-Loop-Systeme“ sind in der Entwicklung; erste experimentelle Pumpen geben bei einer Unterzuckerung sogar selbstständig Glukagon ab, ein Hormon, dass den Zuckerspiegel erhöht. „Doch das ist eher Zukunftsmusik“, räumt Dietrich ein.
Ein grundlegenderes Problem können die Forscher nicht lösen: Bundesweit gibt es viel zu wenige Endokrinologen, Mediziner, die sich mit Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes beschäftigen. Auf 400.000 Einwohner kommt einer, für Berufsanfänger ist die komplexe Fachrichtung wohl wenig attraktiv. Dietrich hat nie bereut, sich dafür entschieden zu haben. „Endokrinologen“, sagt er, „sind nach den Pädiatern die am schlechtesten bezahlten Ärzte. Aber nach denen auch die zweitglücklichsten.“
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Metformin, so Johannes Dietrich, sei nach wie vor „das wichtigste orale Antidiabetikum“; aber es gebe inzwischen viele mehr vom „SLGT 2- bis zum DPP4-Hemmer“. Bahnbrechende Erfolge in der Therapie von Typ 2-Diabetikern versprechen indes vor allem die sogenannten „GLP1-Rezeptor-Agonisten“ oder GLP1-Analoga. Sie wirken nicht wie das Bauchspeicheldrüsenhormon Insulin, sondern ähnlich wie Hormone aus dem Dünndarm (Inkretine), die die körpereigene Insulinproduktion anregen.
Eine der internationalen Galionsfiguren der Inkretin-Forschung ist Prof. Michael Nauck, Leiter der klinischen Forschung der Diabetologie im KKB. Er befasst sich seit 1981 mit dem Thema. Und sagt heute: „Das ist noch immer viel Musik drin.“ Auf allen internationalen Kongressen würden für die Vorträge zum Thema „Inkretin“ noch immer die größten Säle reserviert.
Denn Studien belegten inzwischen, erläutert Nauck, dass GLP 1-Analoga – das bekannteste ist Semaglutid – wirksamer seien als Insulin. Sie senken zudem das hohe Risiko eines Diabetikers, an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben; als Appetitbremse helfen sie bei der Gewichtsabnahme; und schließlich machen sie die gefürchteten Unterzuckerungen beinahe unmöglich, weil Inkretine aufhören zu arbeiten, wenn sich der Blutzuckerspiegel normalisiert. Die Nebenwirkungen (in seltenen Fällen: Durchfall, Erbrechen) nehmen sich dagegen relativ harmlos aus.
2007 wurden GLP 1-Analoga in Deutschland zugelassen, seit zwei, drei Jahren sind sie auch in Tablettenform („in der Anwendung nicht ganz so einfach, aber wir arbeiten dran“) auf dem Markt, in der Regel spritzt sich der Patient das Mittel unter die Haut: eine Standarddosis, einmal pro Woche.
Nauck beschäftigt sich gerade mit einem „Nachfolgekonzept“, einer Substanz, die nicht nur GLP1 stimuliert, sondern auch einen zweiten Hormon-Rezeptor. Erste Studien zeigten: Es wirkt noch stärker als Semaglutid, senkt den Langzeit-Blutzuckerwert HbA1c und das Körpergewicht noch deutlicher, letzteres im Schnitt um 11,2 Kilo in 40 Wochen!