Erftstadt. Im Sommer flutete das Hochwasser viele Häuser, riss manche in eine Kiesgrube. Wie das Dorf Blessem nun trotzdem Weihnachten feiert.
Die meisten sind wieder zurück, aber zuhause sind sie längst noch nicht. Erftstadt, Ortsteil Blessem, gut fünf Monate nach der Nacht, in der der Regen kam. So viel Regen, dass aus dem Flüsschen Erft ein reißender Strom wurde, der alles überschwemmte und die große Kiesgrube am Ortsrand einbrechen ließ. Knapp 2000 Menschen leben hier, die in die Zukunft blicken wollen und doch immer wieder eingeholt werden von der Vergangenheit.
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Blessem an einem Morgen im Dezember. Man muss mittlerweile genau hinsehen. Denn auf den ersten Blick ist die Normalität zurückgekehrt ins Dorf. Ja, da sind noch immer die roten Kreuze an den Wänden, mit denen die Feuerwehr damals markierte, welche Häuser sie schon durchsucht hatte. Aber es gibt kaum noch Sperrmüll auf den Bürgersteigen, fast alle Straßen sind wieder frei oder neu gebaut. Man muss aber nur aussteigen, muss mit Leuten sprechen. Das ist einfach, denn irgendwo steht immer jemand, der redet mit Nachbarn oder Bekannten. Wie das so ist an einem Ort, an dem fast jeder jeden kennt. Und der so klein ist, dass viele seit Juli ein ähnliches Schicksal teilen. Was den Gesprächsstoff so schnell nicht ausgehen lässt.
Heizung haben viele Häuser noch nicht wieder
Auch Walter Droppe, der direkt an der Kiesgrube wohnt und gerade die letzten aufgequollenen Möbel aus dem Haus geschafft hat, ist auf der Straße ins Plaudern geraten. „Sieht alles wieder gut aus“, sagt er. „Ist es aber nicht.“ Hier nicht, weiter hinten nicht. Also kein Weihnachtsfest in den eigenen Wänden? Droppe lacht. „Kommen Sie mal mit“, sagt er und bittet ins Haus.
Wo die Feuchtigkeit zwar weitgehend ausgezogen, dafür aber die Kälte eingezogen ist in die leeren Räume mit den nackten Wänden und Böden und wo deshalb Heizlüfter auf vollen Touren laufen. Wie in vielen Wohnungen im Dorf. „Heizung? Droppe lacht wieder. „Haben wir noch nicht. Haben viele noch nicht.“ Liegt meist nicht am Geld. Soforthilfe, Spenden, eigene Ersparnisse, „das kriegen wir schon hin“. Was sie aber nicht kriegen in Erftstadt sind Handwerker.
Handwerker werden dringend gesucht
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Aus Köln, aber auch aus dem Ruhrgebiet oder vom Rande des Sauerlandes stehen die Kastenwagen von Klempnern, Elektrikern und anderen Gewerken in den Straßen, und trotzdem sind es nicht genug. „Wir sind ja nicht die einzigen im Land, bei denen es Hochwasser gab“, sagt Droppe. „Die Zuleitungen liegen“, bestätigt Christian Kirchharz, Sprecher der Stadt. „Was fehlt, sind nur die Leute, die die Hausanschlüsse legen.“ Über 200 mobile Heizungen hat die Stadt deshalb verliehen. „Es wird niemand erfrieren“, versichert Kirchharz.
Blessem am Mittag. Ein paar hundert Meter hinter der Kiesgrube sitzen Menschen unter dem schützenden Dach eines offenen Zeltes direkt vor der Kirche und essen. Dicke Jacken haben sie sich angezogen, die nächsten Tage sollen auch noch Heizstrahler kommen. Seit der Flut verteilt hier die Essengruppe Blessem heiße Getränke und warme Speisen, weil die Küchen in vielen Haushalten im Ort unter Wasser standen. Mittlerweile sind die meisten Schäden längst beseitigt. Aber viele kommen immer noch. Sie wollen nicht essen, sie suchen Kontakt, Nähe, Gespräche.
Ehrenamtliche helfen, wenn die Menschen keinen Rat mehr wissen
Einen „Lichtblick“ nennt Wolfgang Gierke (85) diese mittäglichen Treffen, und Ehefrau Anna (81), Gerhard Benderich (88) und Maria Kaiser nicken. Über Gott und die Welt reden sie, scherzen, schwelgen in Erinnerungen, teilen Erfahrungen und ihr Leid nach der Flut und wenn sie nicht mehr weiter wissen bei der Frage, wie sie Anträge ausfüllen oder Handwerker suchen können, dann helfen Ehrenamtliche wie Cordula Jäger weiter. „Die Dorfgemeinschaft ist durch die Flut zusammengewachsen“, hat die 50 jährige festgestellt.
„Das ist sie“, sagt auch Beate Spoo, deren großer Reitstall zur Hälfte in den Krater der Kiesgrube gerissen worden ist. Sie selbst hat ihre Pferde auf einem Hof in einem der leergezogenen Dörfer des Tagebaus Garzweiler unterbringen können, den RWE ihr zur Verfügung gestellt hat. „Wir überlegen jetzt, wie es weitergeht hier im Dorf.“
„Bei jedem Regenschauer kriege ich Angst“
Anfangs, erinnert sich die 68-Jährige, hätten viele Menschen nicht zurückkommen wollen in den Ort an der Erft. „Aber jetzt sind fast alle wieder da.“ Selbst die Grotens aus dem letzten Haus vor der Abbruchkante. Im Morgengrauen des Fluttages sind sie mit einem Hubschrauber über das Dach gerettet worden. Beide in letzter Minute und sie mit gebrochenen Rippen. Eigentlich habe sie nicht wieder zurückgewollt, bestätigt Waltraud Groten (78). Keine Nacht habe sie – untergekommen bei Bekannten – in den ersten Wochen durchgeschlafen. Nun zählen sie durch eine Verkettung glücklicher Umstände sogar zu den wenigen, die zu Hause wieder Weihnachten feiern können. Was ihre Meinung geändert hat? „Wir haben ja unser ganzes Leben hier verbracht. Wo sollen wir sonst hin?“ Unbehagen aber bleibt. „Bei jedem Regenschauer kriege ich Angst“, gibt Waltraud Groten zu.
Da ist sie nicht alleine. Im Dorf erzählen sie Geschichten von Kinderwunschzetteln, auf denen „ein Boot“ ganz oben steht. „Wenn das Wasser wieder kommt.“Was sich viele Erwachsene wünschen, haben sie auf große gelbe Banner geschrieben und an ihre Häuser gehängt: „Keine Kiesgrube mehr in Blessem“. Aber das entscheidet nicht der Weihnachtsmann, das entscheidet die Justiz. Und im Verfahren „Havarie Kiesgrube“ dauern die Ermittlungen gegen unbekannt „wegen Baugefährdung“ an.
Mit mehr Unterstützung bei der Beantragung der staatlichen Hilfe würde man vielen Menschen in Blessem auch eine Freude machen. Nicht nur Grotens klagen über die „komplizierten Formulare“, die online auszufüllen sind. „Wir haben nicht mal eine E-Mail-Adresse“. Ohne Hilfe des Sohnes, sagen sie, „hätten wir das nie geschafft“.
Kein erleuchtetes Fenster rund um den Krater
Blessem am Abend. Advent, Advent, kaum ein Lichtlein brennt. Zu keiner Zeit des Tages spürt man die Nachwirkungen des Hochwassers wie nach Einbruch der Dunkelheit. Vor allem im Parterre gibt es rund um den wieder aufgefüllten Krater kein erleuchtetes Fenster. „Dann ist das Dorf tot“, hat Gerhard Benderich schon am Mittag vorgewarnt. Und es wird verständlich, warum Walter Droppe sagt: „Es war in diesem Jahr schwierig, sich auf Weihnachten zu freuen.“
Heiligabend aber will die Familie doch zusammenkommen. Mit Kindern und Enkeln. Nicht um Vergangenes zu betrauern, sondern um „nach vorne zu blicken“, sagt Droppe. Natürlich habe die Flut vieles verändert. Habe gezeigt, wie schnell sich von einer Sekunde zur anderen alles verändern könne, aber auch die Frage aufgeworfen, ob man den Neustart nicht nutzen könne, um sich „kleiner zu setzen“. „Vieles brauche ich nicht mehr.“ Und am Ende, sagt Droppe sei doch nur eins wirklich wichtig: „Hauptsache ist, wir haben unser Leben noch.“