Essen. Arzt-Praxen sollen nur noch 30 Biontech-Dosen pro Woche bestellen. „Lächerlich“, sagen sie, werfen der Politik unstrukturiertes Vorgehen vor.

Sie dachten, er scherze nur: Als Jens Spahn am Freitag erklärte, er wolle ab 29. November die Lieferung der Impfstoffdosen des Herstellers Biontech/Pfizer auf 30 pro Woche und Arzt oder Ärztin begrenzen, mochte man das in den Praxen in NRW zunächst gar nicht glauben. Doch der Bundesgesundheitsminister meinte es ernst, statt Biontech könnte das Vakzin von Moderna ja in beliebiger Menge bestellt werden, erklärte er. Die niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen im Land tobten am Montag erst einmal. Vor Wut.

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„Es reicht! Die erneute Kontingentierung für Hausarztpraxen mit fünf Vials Biontech in der Woche ist eine Provokation!“, empörte sich etwa Anke Richter-Scheer, Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe. Der Herr Minister sabotiere die Impfkampagne, hieß es in einer Mitteilung des Hausärzteverbandes Nordrhein. Denn 30 Dosen pro Woche seien „lächerlich“, so Sprecherin Monika Baaken: „Die Menge kann eine Praxis nebenbei an einem halben Tag verimpfen.“ Auch die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) forderte eine umgehende Rücknahme der „Deckelung“. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Dirk Spelmeyer sprach von einer „eklatanten Fehleinschätzung der Lage“ seitens des Ministers. Spahn hatte seinen Vorstoß damit begründet, dass eingelagerte Moderna-Dosen Anfang kommenden Jahres zu verfallen drohten. Biontech ist aber der mit Abstand beliebteste Impfstoff. In dieser Woche erhalten die Arztpraxen bundesweit noch rund 4,6 Millionen Dosen.

Erst 4,8 Millionen Menschen haben ihre Grundimmunisierung aufgefrischt

Es geht vor allem um die dritte, die sogenannte Booster-Impfung. Die Nachfrage danach ist derzeit gewaltig, und das sei „grundsätzlich auch sehr zu begrüßen“, so Anke Scheer. Erst 4,8 Millionen Menschen in Deutschland haben ihre Grundimmunisierung bereits aufgefrischt. 15 Millionen sollten es bis Jahresende mindestens sein, rät die Ständige Impfkommission, wenn die vierte Pandemie-Welle noch gebrochen werden soll. Spahn selbst peilt 40 Millionen weiterer Booster-Impfungen an. Denn nach und nach lässt die Schutzwirkung der ersten Impfungen gegen eine Infektion mit dem Corona-Virus nach. Die Stiko rät inzwischen allen über 18 Jahren zum Boostern, etwa sechs Monate nach der letzten Impfung.

Doch die letzten Impfzentren im Land wurden Anfang Oktober geschlossen. Von da an sollten es die niedergelassenen Ärzte richten. Diese gaben sich zunächst auch zuversichtlich: Wir schaffen das, erklärten die Verbände noch im September selbstbewusst. Heute muss, wer um einen Termin für die Booster-Impfung bei seinem Hausarzt nachfragt, allerdings vielerorts lange, manchmal sogar Monate, darauf warten. Und die Praxen klagen: Wir sind am Limit!

92 Prozent der Praxen in Westfalen-Lippe beteiligen sich an der Impf-Kampagne

Tatsächlich erlebten die Arztpraxen „aktuell einen regelrechten Ansturm auf die Boosterimpfungen“, so Anke Richter-Scheer – ihrer Meinung nach ausgelöst „durch das unstrukturierte Vorgehen der Politik“. „Plötzlich wollen alle auf einmal und am liebsten sofort einen Impftermin zur Auffrischung.“ Im Sommer sei zudem wertvolle Zeit verschenkt worden, da die Impfungen für Kinder ab zwölf Jahren erst „mit viel zeitlichem Verzug“ durch die Stiko empfohlen worden sei. Richter Scheer: „Dadurch hat sich der gesamte Impfprozess unnötig in die Länge gezogen und kollidiert nun mit der Infektsaison und steigenden Inzidenzen.“

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Das Impfen sei für die Praxen dennoch „Routine“, so Daniel Müller von der KVWL. Viele engagierte Ärzte und Ärztinnen bieten längst Extra-Impf-Sprechstunden etwa an Wochenenden oder am Mittwochnachmittag an. In der vergangenen Woche wurden so mehr als 184.000 Booster-Impfungen allein in den Praxen in Westfalen-Lippe verabreicht, 70 Prozent mehr als in der Vorwoche. „Tendenz weiter steigend“, freut sich die KVWL. Stolze 92 Prozent aller hausärztlichen Praxen, so Müller, beteiligten sich aktuell an den Impfungen gegen das Coronavirus.

„Alles wird mit heißer Nadel gestrickt“

NRW-weit seien noch rund 7000 Praxen „dabei“, so Monika Baaken. Aber immer mehr stiegen jetzt aus – „verärgert über die Politik, die sich zu spät um die Organisation und die Logistik der Auffrischimpfung gekümmert hat“, genervt von Bürokratie-Aufwand und komplizierten Bestellverfahren für die Vakzine. „Alles wird mit heißer Nadel gestrickt.“ Nach Spahns Ankündigung, Biontech wieder zu rationieren, fürchtet man, würden weitere Ärzte aus der Impfkampagne aussteigen.

Beide Impfstoffe – Biontech und Moderna – seien fürs Boostern der über 30-Jährigen geeignet, „gleichwertig gute Impfstoffe“, erklärte Dr. Oliver Funken, Vorsitzende des Hausärzteverbands Nordrheins, „aber die Umstellung bindet wertvolle Zeit, die uns für das Impfen verloren geht.“ Die Praxen hätten Impftermine bis weit in den Januar hinein koordiniert, bestätigt Anke Richter-Scheer – basierend auf der vorher zugesagten unbegrenzten Liefermenge von Biontech. Die nun von Spahn angekündigte Umstellung verunsichere die Patienten „einmal mehr“. Die erneute Aufklärung der Politik möge nun „bitte“ auch die Politik übernehmen. „Denn für Diskussionen haben wir und vor allem unsere Praxisteams keine Zeit, die benötigen wir für das Impfen und für kranke Menschen, die ja auch noch behandelt werden wollen.“

Kassenärzte appellieren an Patienten: Ruhe bewahren

Die KVWL schließlich appellierte in diesem Zusammenhang an alle Patientinnen und Patienten, Ruhe zu bewahren und nicht auf einen sofortigen Impftermin zu pochen. „Der Impfschutz verschwindet nicht auf Knopfdruck nach sechs Monaten“, so Dr. Volker Schrage, Vize-Vorstandsvorsitzender. „Die Praxisteams, haben zunächst die Personengruppen im Fokus, die am vulnerabelsten sind und den Schutz der Auffrischungsimpfung vorrangig benötigen.“

>>>>INFO: Biontech versus Moderna

Beide Impfstoffe sind hervorragend zum Boostern geeignet, sagt Prof. Ulf Dittmer, Chefvirologe der Essener Universitätsmedizin – auch wenn man zuvor das jeweils andere RNA-Vakzin zur Grundimmunisierung erhalten hat.

Bei Moderna, so Dittmer, sei die Immunantwort sogar noch ein klein wenig stärker.

Die Impfreaktionen seien zudem bei beiden Impfstoffen identisch – bei über 30-Jährigen. In jüngeren Altersgruppen wird nur Biontech verwendet zur Auffrischung.