Wuppertal. Als Mörderin von fünf ihrer Kinder muss eine 28-Jährige aus Solingen lebenslang ins Gefängnis. Laut Gericht wollte sie ihren Ehemann bestrafen.

Es war keine kranke Seele, es war kein Affekt, der eine Mutter dazu trieb, fünf ihrer Kinder zu ermorden. „Da hat eine gesunde junge Frau gehandelt.“ Das Landgericht Wuppertal verurteilt die 28-Jährige aus Solingen aus dieser Überzeugung am Donnerstag zu lebenslanger Haft. Wegen „der Zahl der vernichteten Leben“ sieht die Kammer zudem die besondere Schwere der Schuld, was eine frühe Haftverkürzung unwahrscheinlich macht: „Wenn nicht in diesem Fall, wann dann?“

Sie weint auch diesmal nicht. Es ist eine Erkältung, die sie zum Taschentuch greifen lässt. Sie lächelt auch nicht. Zu Prozessbeginn hat man ihr das vorgeworfen. Es ist ein trauriges Bild an diesem Morgen im Schwurgerichtssaal: wie die kleine Frau dort hinten sitzt, regungslos in ihrem grauen Pullover, unter dem ein rotes Shirt hervorguckt, um den Hals denselben Schal wie zwei Tage zuvor, mit himmelblauen Fransen. In diesem Leben, das wird Richter Jochen Kötter ausführlich erklären, ist nichts mehr himmelblau.

Zum Urteil in den Schwurgerichtssaal: Die Angeklagte (r.) steht hinter ihren Anwälten Felix Menke und Thomas Seifert (v.r.).
Zum Urteil in den Schwurgerichtssaal: Die Angeklagte (r.) steht hinter ihren Anwälten Felix Menke und Thomas Seifert (v.r.). © dpa | Oliver Berg

„Ein furchtbarer Ablauf, der sich fünfmal wiederholt“

Seit jenem 3. September 2020 frühmorgens nicht mehr, als die sechsfache Mutter das neue Profilbild ihres Mannes entdeckt: Er küsst darauf eine andere Frau. „Ich freue mich für dich“, schreibt sie um 7.21 Uhr an den Vater ihrer vier jüngsten Kinder. „Der hat eine Neue“, nur eine Minute später an ihre Mutter. Und: „Ich kann echt nicht mehr.“ Bis viertel nach neun schickt sie Nachrichten, an die Mutter ihr Entsetzen, an den Mann ihre Verzweiflung: „Ich kann das nicht ertragen. Ich vermisse dich unendlich.“ Dann ist Schweigen, fast eineinhalb Stunden lang. „In diesem Zeitraum“, glaubt die Kammer, „geschah die Tat.“

Diese Tat, die Jochen Kötter lieber vorlesen will mitten in seinem freien Vortrag, weil das „leichter“ sei. „Sie beschloss, ihre fünf Kinder und sich selbst zu töten.“ Aber dann fasst er doch kurz zusammen, was geschah („man mag es sich nicht ausmalen“): Wie die bis dahin fürsorgliche Mutter ihre fünf Jüngsten, zwischen einem und acht Jahren alt, betäubt mit dem Hustensaft aus Trinkbechern und -fläschchen, den sie ja kennen, außerdem sind zwei Jungen tatsächlich erkältet. „Keine furchtbare Gewalt“ sei das gewesen, sondern „die sanfte Methode, denn sie war ihren Kindern sehr zugetan“. Wie sie sie dann ertränkt zwischen Spielzeug im warmen Badewasser. „Man kann nur hoffen, dass sie so betäubt waren, dass sie nicht viel miterlebt haben.“ Wie sie sie liebe-, fast würdevoll in ihre Betten legt, jedes in sein eigenes, nur Timo zu seinen kleinen Schwestern: Die Kinder ihres Ehemannes liegen beieinander. „Ein furchtbarer Ablauf, der sich fünfmal wiederholt.“

Man denkt, „dass mehr dahinter stecken muss“

Der Vorsitzende des Schwurgerichts, Jochen Kötter. es.
Der Vorsitzende des Schwurgerichts, Jochen Kötter. es. © Getty Images | Sascha Steinbach

Warum? Weil sie verzweifelt ist und innerlich zerrissen, sagt das Gericht. Mit der neuen Frau sei ihr „Lebenskonzept mit einer Großfamilie zerplatzt“, der Ehemann habe das Ideal zerstört. Diese Erkenntnis, sagt Kötter, habe zu einer „erheblichen Demütigung und Kränkung“ geführt. Und zu dem Wunsch, den Mann zu bestrafen, ihm Schuld anzulasten für den Tod der Kinder, aus Wut und Rache „für den empfundenen Verrat“. Man denke, so Kötter, „häufig, dass mehr dahinter stecken muss“: eine Mutter, die ihre eigenen Kinder tötet! Aber schon der Verteidiger hat das erklärt mit der narzisstischen Veranlagung seiner Mandantin.

Zeugen: Sie war eine gute Hausfrau und Mutter

Eine Fassade aber, wie der Staatsanwalt vermutet hat, sei das Familienleben für die 28-Jährige nicht gewesen: „Es war das Leben, das sie leben wollte.“ Sie hatte ihre Rolle, ihre Aufgabe, ihre Erfüllung in der frühen Mutterschaft gefunden. Probleme aus der Kindheit, sexuelle Übergriffe, Mobbing in der Schule, das habe sich „mit der ersten Geburt im Januar 2009 aufgelöst“. Da war sie erst 16, aber sie hatte fortan die Kontrolle, sie organisierte, erzog, führte ein Haushaltsbuch und machte sogar Urlaube möglich, wo doch nicht viel Geld da war. Das lief, sagt Kötter, „wunderbar gut“. Die junge Mutter, die nach und nach sechs Kinder bekam, sei sich selbst mit der Familie genug gewesen. Alle Zeugen im Prozess waren ja auch voll des Lobes: Die Angeklagte habe ihre Mutterrolle voll ausgefüllt.

Doch die Fäden entgleiten ihr, als sie ihren ohnehin unsteten Mann nicht mehr halten kann. Sie, die ihn jahrelang auch mit Tricks immer wieder nach Hause geholt hat, die sogar ein siebtes Kind plant, erschüttert das zutiefst, glaubt das Gericht. „Sie verliert die Kontrolle“ – und behält sie doch. Die Kinder liegen schon tot in ihren Zimmern, da macht sie Kassensturz, überweist Geld für ihren Ältesten, der in der Schule ist, studiert Fahrpläne, bevor sie später nach Düsseldorf fährt, um sich dort vor einen Zug zu werfen. „Sie ist entschlossen, sich selbst zu töten“, glaubt Richter Kötter, aber sie wird nur leicht verletzt.

Ältester Sohn (12) wird von der Öffentlichkeit abgeschirmt

Nur die Polizeisiegel zeigen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist: die Wohnungstür in Solingen am Tag nach der Tat.
Nur die Polizeisiegel zeigen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist: die Wohnungstür in Solingen am Tag nach der Tat. © dpa | Marcel Kusch

Allein diese kontrollierten Handlungen beweisen für die Kammer: Es gab keinen fremden Mann. Keinen Auftragskiller, keinen verschmähten Liebhaber, niemanden, der in die Wohnung eindrang, um die Kinder zu töten und ihre Mutter zu fesseln. Die Verteidigung hatte solche Andeutungen der Angeklagten ausgebreitet, als nachvollziehbar dargestellt und aus „Zweifel an der Täterschaft“ sogar einen Freispruch gefordert. Alles „tote Gleise“, sagt der Vorsitzende Richter, „Quatsch“ und „absurd“: „ein ausgedachtes Szenario“.

Der Frau, die sie für eine Mörderin halten, wünscht Kötter, dass sie „die Taten in ihr Leben integrieren“ und endlich auch ihrem überlebenden Sohn Erklärungen geben könne. Man müsse sich Sorgen machen um ihn und hoffen, „dass er zu einem gesunden Mann heranwachsen kann“. Für den Zwölfjährigen, der seine Geschwister verloren hat, der nun nicht mit seiner Mutter zusammensein kann, der nie Kontakt zu seinem Vater hatte, sei es schlimm, hatte seine Anwältin in dieser Woche gesagt, dass es Erklärungen bislang nicht gebe. Laut Verteidiger Felix Menke ist der Junge „in guten Händen“, doch das müsse auch so bleiben: „Es ist in dieser Sache das Wichtigste, dass er in Ruhe gelassen wird.“

Falls seine Mutter einst wieder freikommt, wird sie „mittleren Alters“ sein, wie Richter Jochen Kötter wohl weiß und bedauert. „Wir sehen immer auch den Menschen, der mit dieser Schuld und in Unfreiheit leben muss.“

>>INFO: VERTEIDIGER KÜNDIGEN REVISION AN

Nach der Urteilsverkündung sprachen die Rechtsanwälte Felix Menke und Thomas Seifert noch kurz mit ihrer Mandantin. Sie kündigten an, in Revision zu gehen und weiter kämpfen zu wollen: bis vor dem Bundesgerichtshof.