Wuppertal. Freispruch oder Lebenslang? Gegen eine 28-Jährige aus Solingen, die fünf ihrer Kinder getötet haben soll, ergeht am Donnerstag das Urteil.

War sie es oder war sie es nicht? Darüber gehen die Meinungen links und rechts des Richtertisches auch nach 20 Prozesstagen auseinander. Das Landgericht Wuppertal wird darauf bis Donnerstag eine Antwort finden: Dann spricht die Kammer das Urteil über eine 28-Jährige aus Solingen, die fünf ihrer Kinder getötet haben soll. Eine Frage aber wird wohl offen bleiben: Wenn sie es war, warum hat sie nicht aufgehört nach dem ersten, zweiten, dritten… „Sie hatte“, sagt Rechtsanwalt Jochen Ohliger, der den Vater der vier Jüngsten als Nebenkläger vertritt, „1000 Möglichkeiten, zu Verstand zu kommen.“

Es war der erste Satz der Pressekonferenz am Tag danach, und auch 14 Monate geht er noch niemandem einfach so über die Lippen: „Fünf Kinder“, Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt stockt kurz, räuspert sich, „sind tot.“ Melina (1), Leonie (2), Sophie (3), Timo (6) und Luca (8) habe die 28-jährige erst sediert, dann in der Badewanne erstickt oder ertränkt. Die Details spart sich der Ankläger, die Beteiligten im Saal haben ja Monate mit Zeugen, Gutachtern und Bildern verbracht; sie wissen, was gemeint ist mit solchen Sätzen: „Der Erstickungs-Vorgang war nach der Sedierung leicht durchzuführen.“

Da kleben die Polizeisiegel noch an der Wohnungstür: Nur noch die Schuhe, ein Kinderwagen und ein kleines Fahrrad erinnern in dem Hausflur an der Solinger Hasseldelle daran, dass hier eine kinderreiche Familie lebte. Das Foto entstand am Tag nach der Tat.
Da kleben die Polizeisiegel noch an der Wohnungstür: Nur noch die Schuhe, ein Kinderwagen und ein kleines Fahrrad erinnern in dem Hausflur an der Solinger Hasseldelle daran, dass hier eine kinderreiche Familie lebte. Das Foto entstand am Tag nach der Tat. © dpa | Marcel Kusch

Mutter soll fünf Kinder betäubt und umgebracht haben

Durch die Mutter, das ist für den Staatsanwalt klar. Die unbekannte Person, die sie vor dem Prozess und gegenüber Psychologen der Tat bezichtigte, gebe es nicht. Dass ein Außenstehender die Tat begangen habe, sei „ausgeschlossen“. Schon weil die Angeklagte damals, im September vor einem Jahr, noch eigens einen Heizlüfter im Bad aufstellte, eine Verlängerungsschnur anschloss – wer soll um solche nötige Routine gewusst haben? Und schließlich: „Es gab keine Spuren.“

Aber: „Was bringt eine Mutter dazu, ihre eigenen Kinder zu töten?“ Sie haben erheblich gestritten um diese Frage vor Gericht, die Verteidigung bestellte einen eigenen Gutachter und warf der Kammer noch am Dienstag vor, eine „Vorverurteilung nicht verhindert“ zu haben. Es ging um möglichen sexuellen Missbrauch in der Familie der Angeklagten, um die Frage, ob alles ein Auftragsmord gewesen sei, ob ein enttäuschter Liebhaber sich habe rächen wollen… Die Verteidiger würden vor lauter Zweifeln am liebsten einen Freispruch sehen.

Sechsfache Mutter erkannte „die Endgültigkeit der Trennung“

Doch Ankläger Kaune-Gebhardt weicht nach dem Ende der Beweisaufnahme nicht ab von seiner ursprünglichen Theorie: Die Frau sei enttäuscht gewesen, frustriert über ihren „unzuverlässigen Mann“, dessen neue Partnerin er bei Facebook präsentiert hatte. Sie habe an jenem Morgen, früh um sieben, „die Endgültigkeit der Trennung erkannt“. Womit eine Fassade zusammenbrach: Bis dahin sei die Sehnsucht nach einer heilen Familie, die sie selbst nie hatte, ein Fluchtpunkt gewesen, nun, sagt der Staatsanwalt, riss sie selbst die Fassade ein, die sie sich aufgebaut hatte. „Ihre Kinder waren dafür funktionslos geworden.“

Die Angeklagte am ersten Prozesstag Mitte Juni im Wuppertaler Landgericht.
Die Angeklagte am ersten Prozesstag Mitte Juni im Wuppertaler Landgericht. © dpa | Oliver Berg

Das klingt kalt, aber genau das sagt selbst die Verteidigung über ihre Mandantin, sie baut sogar ihre Strategie darauf auf: Die 28-Jährige, die ihren Ältesten verschonte, sei emotionslos, zutiefst narzisstisch, darin sind sich die Beteiligten ebenso einig wie darin, dass in der Vergangenheit „etwas gewesen sein muss“, wie Anwalt Thomas Seifert es ausdrückt. Hochgradig „dissozial“ sei die Herkunftsfamilie gewesen („eine Katastrophe von vorne bis hinten“), die daraus „geborene“ Selbstliebe vergleicht er mehrfach mit der Donald Trumps. „Sie kann nicht etwas preisgeben, das einen Makel auf sie wirft. Ein Narzisst kann eine solche Tat nicht gestehen.“ Subjektiv sei seine Mandantin „keine Kindsmörderin“.

Anwalt „empfiehlt“ Urteil wegen Totschlags

Das sieht die Staatsanwaltschaft anders und plädiert auf Mord aus Heimtücke. Schließlich seien die Kinder arglos gewesen: „Sie erwarteten die tägliche Fürsorge ihrer Mutter.“ Schuldminderungsgründe gebe es nicht, eine Persönlichkeitsstörung auch nicht. Deshalb müsse die Strafe lebenslang verhängt werden, zudem sieht Heribert Kaune-Gebhardt die „besondere Schwere der Schuld“. Dagegen steht die Verteidigung, die schon ahnt, dass sie mit dem Freispruch nicht durchkommen wird. Thomas Seifert stellt deshalb keinen Antrag, sondern gibt „eine Empfehlung“: Wenn das Gericht seiner Auffassung nicht folgen könne, möge es wegen Totschlags verurteilen, zu acht Jahren Haft und Psychiatrie.

In ihrer abgetrennten Ecke sitzt die Frau, über die sie da reden, wie sie an allen Verhandlungstagen saß: regungslos, die großen Augen ins Nichts gerichtet, ab und zu sieht man sie seufzen über ihrem himmelblauen Schal. Man weiß nicht, ob sie zuhört. Auch heute sagt sie nur ein einziges Wort, sie will nichts mehr sagen vor dem Urteil: „Nein.“ Sie bedeutet es schon mit ihren Augen, keine Bewegung, nicht einmal den Kopf schüttelt sie. Verteidiger Felix Menke wird später sagen, sie rechne mit „lebenslänglich“.