Essen. Ausgrenzung und Sanktionen: Der Ton in der Impfdebatte wird schärfer. Soziologe Prof. Gregor Bongaerts sagt, was das mit der Gesellschaft macht.

Der Druck auf die Ungeimpften steigt, der Ton in der Debatte verschärft sich. Was macht das mit unserer Gesellschaft? Darüber sprach Frank Preuß mit Professor Gregor Bongaerts, Soziologe an der Universität Duisburg-Essen.

Erleben wir gerade die Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte, in die, die einigermaßen uneingeschränkt am Leben teilnehmen werden und jene, die sich um ihre Rechte betrogen sehen ?

Gregor Bongaerts: Ich vermute, dass sich das in diese Richtung bewegt. Es gab ja von Beginn an die sehr Impfskeptischen, die sich nicht impfen lassen wollen und artikulieren, dass eine Impfpflicht durch die Hintertür kommt und sie das ablehnen. Sie sind sehr verfestigt in ihrer Meinung und werden das immer so artikulieren. Auf der andere Seite ist aber auch eine größere Gruppe da, die skeptisch war, die sich aber jetzt durch relativ kleine Veränderungen umstimmen lassen wird. Dazu zählen Dinge wie, dass man für Tests zahlen muss und es teuer wird, dass man bestimmte Ausgrenzungen erlebt wie im Restaurant oder es Nachteile für die eigenen Kinder gibt.

Aber steckt in dieser Spaltung nicht gesellschaftlicher Sprengstoff?

Es gibt eine Gruppe, die extrem reagiert, die verschwörungstheoretischen Erklärungen folgt, die man nicht überzeugen kann. Ich glaube aber, dass das eine sehr kleine Gruppe ist. Die größere Gruppe derer, die auch nicht unbedingt impfwillig ist, ist nicht radikal, sondern erst einmal skeptisch, was die Sicherheit des Impfstoffs anbetrifft, skeptisch, was die Maßnahmen der Politik anbetrifft. Das ist auch entstanden, weil die Kommunikation schwierig gelaufen ist über die Pandemie.

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Das kann man gesellschaftstheoretisch festmachen: Verschiedene Logiken sind öffentlich sichtbar geworden, die sich scheinbar widersprechen. Da gibt es die Politik, die ihre Entscheidungen treffen muss, die Wissenschaft, die den radikalen Zweifel im Kern ihres Geschäfts hat und für die es normal ist, wenn Hypothesen widerlegt werden. Und die Medien, die Nachrichten produzieren, die Neuigkeitswert haben. In der Wahrnehmung wirkt da manches eher widersprüchlich, so dass man sich sehr schnell an vereinfachenden Erzählungen orientiert. Doch ich glaube, dass sich die Lage normalisieren wird, selbst wenn das nicht über die Einsicht kommt, sondern weil man praktische Nachteile erlebt.

Sie gehen nicht von größeren Verwerfungen aus, weil die Gruppe der Radikalen nicht so groß ist?

Ja, das glaube ich.

Ist es unmoralisch, sich nicht impfen zu lassen – sofern keine medizinischen Gründe dagegen sprechen – weil man andere gefährdet und der Gesellschaft im Krankheitsfall zur Last fällt?

Prof. Gregor Bongaerts, Soziologe der Universität Duisburg -Essen.
Prof. Gregor Bongaerts, Soziologe der Universität Duisburg -Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Als Soziologe kann ich sagen, dass der Diskurs immer stärker moralisiert wird. Wenn man sagt, die Gruppe der Ungeimpften gefährdet andere Schwerkranke, weil sie ihnen im Krankheitsfall womöglich Krankenbetten in der Intensivmedizin wegnimmt, dann ist das eine Moralisierung, weil man sagt, die Menschen, die so etwas tun, sind nicht gut. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche, bei denen die Krankheitsverläufe nach aktuellen Erkenntnissen in der Regel relativ mild (gering) sind, ist es auch eine Moralisierung, darauf bezogen, zu sagen, sich nicht impfen zu lassen, schädigt auch diese Gruppe. Die Wahrscheinlichkeit ist bei Ungeimpften höher, dass Infektionen weitergetragen werden, Nachteile in Schule und Betreuung können entstehen.

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Man hat relativ lange versucht, mit Vernunftsargumenten zum Erfolg zu kommen, das hat nicht so gezogen wie gewünscht. Jetzt wird die Moralisierung verbunden mit stärkeren Sanktionen ein großer Faktor.

Ist der nun allerorten ausgeübte Druck vertretbar?

Es gibt ein Argument, das in vielen Bereichen vorgebracht wird, wenn es darum geht, ob er vertretbar ist: Ist das eine private Entscheidung oder eine öffentliche Angelegenheit? Die öffentliche Angelegenheit beginnt da, wo Dritte potenziell geschädigt werden. Dann kann man nicht mehr sagen, es ist die private

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Angelegenheit eines Einzelnen. Dann kann man rechtfertigen, dass Einschränkungen legitime Maßnahmen sind. Das kennt man vom Rauchen.

Anreize und Überzeugung sind immer besser. Aber der Entscheidungsdruck ist jetzt groß genug, die Warnungen der Virologen sind unüberhörbar: Wenn die Impfquote nicht steigt, erleben wir einen Verlauf, der nicht wünschenswert ist. Das ist ein Grund, warum sich der Ton verschärft.

Der scharfe Ton ist ja vor allem im Netz, in den sozialen Medien ablesbar. Bleiben die Pole so extrem, weil alle sich in ihren Filterblasen bewegen oder kann man noch einen sachlichen Diskurs organisieren?

Ich glaube tatsächlich, es ist eine sehr idealisierte Vorstellung, dass man noch einen Raum schafft, in dem allen alle ihre Meinungen austauschen und wenn man lange genug geredet hat, alle durch den Zwang der besseren Argumente überzeugt sind und einer Meinung folgen. Das wird nicht passieren.

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Die Medien sind in demokratisch verfassten Gesellschaften zentraler Faktor des Korrektivs für die öffentliche Meinungsbildung. Aber das ist schwieriger geworden, seit diese Blasen im Internet offeriert werden, in denen Meinungen nicht mehr unabhängig und unparteiisch präsentiert werden.

Plötzlich hat man hier ein Informationsangebot aus dem Netz, dem man tendenziell mehr glaubt, weil man, warum auch immer, der Annahme ist, das sei unabhängig, ohne Interessen präsentiert und auch vergleichbar geprüft. Da bastelt man sich eine Meinung zusammen, die für den einzelnen stimmig ist. Es ist schwer zu durchbrechen, was da präsentiert und zusammengestellt wird, es ist von außen nicht mehr zu kontrollieren.

Zahlreiche Menschen nehmen in Berlin an einer verbotenen Demonstration gegen die Corona-Politik der Bundesrepublik teil.
Zahlreiche Menschen nehmen in Berlin an einer verbotenen Demonstration gegen die Corona-Politik der Bundesrepublik teil. © dpa | Paul Zinken

Das ist nicht nur mit Blick auf die Coronakrise wenig tröstlich.

Meine Vermutung ist aber, dass der Umgang mit Corona sich für die große Gruppe immer stärker normalisieren wird. Die Skandalisierung durch Unsicherheit wird nachlassen. Im nächsten Jahr verebbt die Lautstärke.

Mit der Corona-Krise sind ja sogar gewisse Hoffnungen verbunden. Stichworte wie Entschleunigung und Nachhaltigkeit sind gefallen. Erleben wir einen Wandel, wenn die Krise vorbei ist oder fallen wir in unsere alten Muster zurück?

Ich glaube sehr stark, dass wir in alte Muster zurückfallen. Es ist nicht ungewöhnlich, in Katastrophen auch irgendetwas Gutes sehen zu wollen. Man kennt auch Sätze wie „Es wird nie wieder sein, wie es mal war.“ Historisch aber lässt sich so etwas nicht belegen. Man wird sicher Dinge lernen für die nächste Krise, zum Beispiel, was die öffentliche Kommunikation anbetrifft, bei der es wirklich gehakt hat. Ansonsten wird Normalisierung eintreten, und darüber werden die Leute sich freuen.