Essen. 51,8 Millionen Menschen in Deutschland sind gegen Corona geimpft. Millionen andere nicht. Und die fünfte Welle naht, sagt ein Infektiologe.
Gut 62 Prozent der deutschen Bevölkerung sind „durchgeimpft“, 51,8 Millionen Menschen. Doch von Tag zu Tag sinkt die Zahl derjenigen, die sich für eine Immunisierung gegen das Corona-Virus entscheiden: Am Montag waren es 118.000 Frauen, Männer und Jugendliche. Zum Vergleich: Am „Top-Tag“, dem 9. Juni 2021 erhielten mehr als 1,4 Millionen Menschen eine Dosis. Aber nicht jeder Ungeimpfte ist Verschwörungstheoretiker oder verweigert die Impfung grundsätzlich. Manche treibt schlicht die Angst um vor schlimmen Nebenwirkungen von Vakzinen, die in Rekordzeit auf den Markt kamen; andere glauben: Ich bin jung und fit, da wird mich das Virus schon nicht ernsthaft krank machen. Wenn es mich denn überhaupt erwischt.
Es wird dich erwischen, halten Virologen dagegen, weil es jeden Ungeimpften erwischen wird. Ein Blick auf die Intensivstationen bestätigt: Die weitaus meisten, die heute dort um ihr Leben ringen, sind ungeimpft.
92.686 Menschen sind bundesweit schon an einer Covid-19-Infektion gestorben, 17.572 allein in NRW. „Und die Toten werden jünger“, sagt Prof. Oliver Witzke, Chef-Infektiologe der Essener Universitätsmedizin; die 1960er- und 70er-Jahrgänge lägen derzeit auf den Intensivstationen. Ernste Impffolgen seien dagegen extrem selten, die Zahlen „stehen in keinem Verhältnis zueinander!“
PEI untersuchte bereits 1254 Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Impfung
Ängste nimmt der Mediziner ernst, „sie sind ja da“. Aber er rät nur ganz wenigen Menschen von einer Impfung ab: denen, die jünger als zwölf Jahre alt sind, sowie denen, die auf die erste Corona-Impfung schwer allergisch reagierten („eine absolute Rarität!“).
Dass auch die Impfung tödliche Folgen haben kann, lässt sich indes nicht leugnen: 1254 „Verdachtsfallmeldungen“ hat das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bis Juli untersucht. Nur bei 48 dieser 1254 Menschen, die kurz nach einer Corona-Impfung gestorben waren, hält es einen „ursächlichen Zusammenhang“ mit der Impfung für „möglich oder wahrscheinlich“. 31 von ihnen hatten nach der Impfung mit einem Vektorimpfstoff (Astrazeneca oder Johnson & Johnson) eine Sinusvenenthrombose erlitten. Das Thema sei „vom Tisch“, beruhigt Witzke. „Wir verimpfen in Deutschland fast nur noch mRNA-Impfstoffe.“
„Das Myokarditis-Risiko ist gering, lässt sich aber nicht wegdiskutieren“
Am schwierigsten, findet der Essener Chefarzt, sei es zu entscheiden, ob man Kinder impfen lassen solle oder nicht. Er selbst hat vier und ist vom medizinischen Nutzen der Impfung für sie „nicht hundertprozentig überzeugt“, sieht zudem das Risiko einer Myokarditis, einer Herzmuskelentzündung durch die Impfung. „Das ist klein, lässt sich aber nicht wegdiskutieren.“ Doch seine „Großen“, 12, 15 und 19 Jahre alt wollten die Impfung und bekamen sie. „Und das sind vorsichtige Kinder“, lacht Witzke. „So vorsichtig wie ihr Vater.“ Man habe die Vor- und Nachteile gemeinsam diskutiert, „am Ende war die soziale Komponente ausschlaggebend“. Das und die Tatsache, dass die beobachteten Herzmuskelentzündungen stets leicht waren, die betroffenen Kinder schon nach zwei, drei Tagen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden konnten und sich vollständig erholten.“
Das von (noch) nicht Geimpften vorgebrachte Argument, die neuen mRNA-Impfstoffe seien nicht richtig „ausgereift“, viel zu schnell zugelassen worden, teilt Witzke dagegen gar nicht. „Deren Entwicklung ist eine echte Erfolgsstory, die haben sich bewährt. Ich wüsste nicht, wo wir ohne die heute wären.“ Dass diese Impfstoffe unfruchtbar machen können, wie zudem behauptet werde, sei schlicht Unfug, „diesem Argument fehlt jegliche Substanz“. Es sei „traurig“, so Witzke, dass darüber in bestimmten Bevölkerungsgruppen tatsächlich diskutiert werde.
Dass die Impfung unfruchtbar macht, stimmt nicht
Um möglichst viele Menschen und Bevölkerungsgruppen zu erreichen sei es gut, dass auch in Sporthallen, in Moscheen, beim Fußball, beim Shoppen, auf einem Flohmarkt, beim Eishockey, im Kulturzentrum und direkt im Stadtteil geimpft werde, glaubt der Arzt. Helfer vor Ort, im Umfeld der Ungeimpften zu rekrutieren, könnte dazu beitragen, mehr Menschen vom Nutzen der Impfung zu überzeugen, sich familiären Druck entgegen zu stellen. Als die allerersten Impfungen der Pflegekräfte in seiner Klinik anstanden, ließ der Chef die Mitarbeiterinnen ja auch durch junge Ärztinnen aufklären und beraten: „Viel besser, als wenn ich, der Professor, es gemacht hätte...“.
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Als Experte auf dem Gebiet der Infektiologe und Intensivmedizin sitzt Witzke auch in der Arbeitsgruppe „Covriin“ des RKI. Derzeit, berichtet er, gehe es dort viel um „Auslastungs-Projektionen“ für die kommenden Wochen. Man fürchte, so Witzke, das uns nach dem Abklingen der aktuellen vierten Welle im Winter eine fünfte bevorsteht, dass die Intensivstationen erneut an die Grenzen der Belastbarkeit kämen, auch wenn nicht mehr so viele Patienten zu betreuen seien wie im letzten Winter. „Aber die Hälfte der Corona-Patienten auf der Intensivstation stirbt. Und weil es jetzt die Jungen trifft, dauert das sehr viel länger als im letzten Jahr. Ab einem bestimmten Punkt gibt es nicht mehr viel, was wir tun können...“ ECMO-Kapazitäten seien bereits jetzt „limitiert“, weil es an Personal fehle, das mit der komplizierten Technik der künstlichen Lunge umgehe könne.
„Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, zahlen ihren Preis“
Einige Menschen, weiß Witzke, wollten trotz allem: einfach noch warten – auf ein traditionelles Vakzin gegen Corona, das weder Vektor- noch mRNA-Impfstoff sei. Nun, das Zulassungsverfahren für das proteinbasierte „Novavax“ läuft, sagt Witzke. „Die Effektivität ist ersten Studien zufolge hoch. Ich würde es begrüßen, wenn es rasch zur Verfügung stünde.“
Denn die Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, versichert Witzke, „zahlen ihren Preis.“ Indem sie krank würden – oder ihre Familie ansteckten. Das ist, was ihn am meisten von allem wundert, was ihn tatsächlich „erschüttert“: dass man die, die die Impfung verweigern, „selbst mit diesem Argument nicht bekommt“. „Für sich selbst mag man das ja so entscheiden. Aber doch nicht für andere….!“
>>> Info: Die Passiv-Impfung
Bei der Behandlung Corona-Kranker setzt Prof. Oliver Witzke große Hoffnungen auf die – auch einigen Ärzten wohl noch unbekannte -- Therapie mit monoklonalen Antikörpern. Er nennt sie „Passiv-Impfung“. Leider werde diese Therapie bislang nur in Einzelfällen genutzt, obwohl Hunderttausende Dosen zur Verfügung ständen.
Die Therapie muss in einem frühen Stadium der Erkrankung erfolgen und zielt vor allem auf die über 50-, 60-Jährigen oder Personen mit Vorerkrankungen, die ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf haben. „Das sind die Menschen, die bei uns im Augenblick sterben“, sagt Witzke.