Bochum. Lars Thalmann schrieb seine Masterarbeit über sein Herzensprojekt: Prothesen aus dem 3D-Drucker. Gedacht nicht nur für Kinder in Kolumbien.
Angefangen hat alles mit der fixen Idee eines Studien-Kumpels: Mit unserem Wissen und einem smarten Produkt, meinte der, können wir doch nebenbei ein bisschen Geld verdienen; er dachte dabei an Entwicklung und Vermarktung einer neuartigen Tischfräse. „Lass uns lieber was mit IT-Technik machen, vielleicht 3D-Druck?“, schlug Lars Thalmann vor. Der Kumpel sprang ab, Thalmann machte was mit 3D-Druck, Großartiges sogar: Arme, Hände und Beine für Kinder ohne. Geld verdiente er damit zwar nie – aber es wurde sein Herzensprojekt, seine „Mission“. Der Maschinenbau-Student aus Xanten schrieb an der Technischen Hochschule Georg Agricola (THGA) in Bochum sogar seine Masterarbeit darüber. In dieser Woche reichte er sie ein.
Der 39-Jährige, der gelernter Industriemechaniker ist, den Bachelor of Engineering hat, in Vollzeit für das japanische Maschinenbauunternehmen Daifuku arbeitet und ein American-Football-Team der „Kevelaer Kings“ trainiert, rühmt sich ungern selbst. Er sagt nur: „Ich bin der Meinung, dass Maschinen dem Menschen dienen, ihn nach vorne bringen sollen. Und wenn man als Experte in Sachen 3D-Druck und Maschinenbau anderen Menschen helfen kann, ist das für mich eine super Sache.“
Hilfswerk "e-Nable" hat schon 8000 Hand- und Armprothesen verschenkt
Deshalb engagiert er sich für „e-Nable“, eine amerikanische „Non-Profit-Organisation“ mit mehr als 20.000 ehrenamtlichen Mitarbeitern („Volunteers“) in 120 Ländern. 8000 Hand- und Armprothesen hat das Hilfswerk schon an Kinder mit Beeinträchtigungen verschenkt. Sie entstanden mittels 3D-Druck. Das Design ließ sich der ursprüngliche Erfinder, Ivan Owen, nicht etwa rechtlich schützen. Er stellte seine „Bauanleitung“ ins Netz.
Thalmann stieß bei der Recherche für den vermeintlich lukrativen Nebenjob auf „e-nable“ – und war auf Anhieb begeistert. Er bewarb sich um eine Mitgliedschaft, wurde erst „Volunteer“, nach umfangreicher Schulung schließlich „Maker“, gründete ein eigenes „Chapter“, eine Ortsgruppe in Xanten. „Damals gab es nur ein anderes deutsches Chapter, in Köln. Das fand ich schon ein bisschen traurig für ein berühmtes Ingenieurland wie das unsere“, erzählt er.
Inzwischen hat der Mann zwei eigene 3D-Drucker zuhause in Xanten stehen – die er gern zur Verfügung stellt, um zu helfen. Ein gutes Dutzend maßgefertigter Hände und Arme entstanden hier schon, meist für Kinder mit Dysmelie, angeborenen Fehlbildungen; aber auch für junge Unfallopfer und einen 27-Jährigen, schwer gezeichnet von Obdachlosigkeit, Drogen und Koma, in einem Hospiz. Ach ja: 483 Faceshields druckte Thalmann im vergangenen Jahr auch noch. Er gab sie zum Selbstkostenpreis an Altenheime, Kliniken und Grundschulen ab.
Industrie hat schon Interesse gezeigt
Der Bochumer Student stellt seine Druckobjekte aber auch für Messen her, auf der nächsten „Maker Faire Ruhr“, der Tüftlermesse in der Dortmunder Arbeitsschutzausstellung, im März 2022 etwa wird er wieder vor Ort sein; Thalmann macht darüber hinaus Workshops, viele für angehende Ärzte, gerade einen in Zusammenarbeit mit einer Berliner Uni, jüngst einen für eine Hilfsorganisation in Sierra Leone. Auch die Industrie zeigte schon Interesse.
Über „e-nable“ fand Thalmann zu „GiveMe 5“, einem spenden-finanzierten kolumbianischen Projekt, das Beinprothesen für arme Kinder bereitstellt. Seine Masterarbeit (Titel: „Statische Belastungsuntersuchung des 3D gedruckten Kniegelenks unter Berücksichtigung durchschnittlicher Körpermassenverteilung nach Bernstein“) führt die Experimente des „GiveMe 5“-Gründers Christian Silva fort. Im Werkstofftechnik-Labor der Bochumer THGA unterzog der Xantener Student seine gedruckten Gelenke umfangreichen Druck- und Zugtests. „Dabei ging auch mal ein Knie kaputt“, berichtet Dr. Nicole Lefort, Lehrkraft „für besondere Aufgaben“ im Bereich Werkstofftechnik, selbst Maschinenbau-Ingenieurin und Betreuerin von Thalmanns Thesis. „Aber auch daraus haben wir gelernt.“
Die Bochumer Hochschule (2450 Studierende, davon 640 im Bereich Maschinenbau) war im Übrigen schnell gewonnen für Thalmanns Projekt, unterstützte es sogar mit 1.300 Euro aus ihrem „Third-Mission“-Topf. „Er hat mich sofort gehabt“, sagt Lefort. Wissenschaftlich, weil der 3D-Druck noch relativ jung sei, man viel mehr darüber erfahren müsse. Und darüber hinaus: „Finde ich Thalmanns privates Engagement wirklich großartig und gesellschaftlich relevant“.
Prothese für Kinder bis zehn Jahren funktionieren mit Hilfe der Schwerkraft
Um die Knieprothesen zu optimieren, wollte Thalmann etwa wissen: Welche Kräfte wirken wo auf das Gelenk, was muss es im Stehen, Sitzen oder in der Hocke aushalten? Wie dick müssen die einzelnen Kunststoffteile dafür sein? Er verwendet PLA, Polyacid Acid (Poly-Milchsäuren), einen biologisch abbaubaren Kunststoff. „E-nable“, sagt er, „besteht auf nachhaltigem Material, dass aus Stärke oder Zucker und nicht aus Petrochemie gewonnen wird.“ PLA, zeigte sich, ist auch bei Temperaturen von über 40 Grad stabil – wichtig bei Prothesen, die in Südamerika zum Einsatz kommen sollen. Für die entsprechenden Tests schaffte die THGA eigens ein neues „Wärmebad“ an.
Verlängert um einen Unterschenkel funktionieren Thalmanns Prothesen, die für Kinder bis zehn Jahren gedacht sind, rein über die Schwerkraft. Sie werden einfach am „Restbein“ angeschnallt, mit Klettbandverschlüssen zum Beispiel. Wenn der Träger den Oberschenkel-Stumpf bewegt, richtet sich die Beinprothese ideal zum Boden aus. „Nicht zu vergleichen mit dem, was über die Muskeln (myoelektrisch) gesteuerte Modelle leisten. Doch zum Laufen, Toben und Spielen mit den Freunden reicht’s", sagt Thalmann. Und Hightech-Prothesen kosteten 7000 Euro, oft mehr. „Damit schicken Eltern ihre Kinder nicht so gern in den Sandkasten...“.
Wie viel er für ein gedrucktes Bein rechnen muss, hat Thalmann noch nicht genau kalkuliert. Es wird nicht viel sein. Eine Kinderhand kostet ihn 20 Euro, in 24 Stunden ist sie fertig gedruckt. Feinmotorisches ermögliche eine solche Hand kaum, aber greifen kann man mit ihr, und mithilfe eines Einsatzes sogar schreiben. Die Hände und Arme, die Thalmann druckt, sind bewusst einfach gehalten – und meist knallbunt, die Kinder dürfen sich die Farbe selbst aussuchen. Der ein oder andere Orthopädietechniker rümpfte daher schon mal die Nase, wenn er am e-nable-Stand stand, berichtet Thalmann. Die Kinder, für die Prothesen bestimmt seien (und deren Eltern sich eine bessere, teurere Prothese oft gar nicht leisten könnten), seien in der Regel hellauf begeistert. „Früher wurde ich gemobbt, hatte keine Freunde“, habe ihm ein kleiner Junge mit Dysmelie gestanden, erzählt Thalmann. Nachdem ihm e-nable einen neuen, blau-rot-gelben Arm verpasst hatte, war er „Superman!“
Die Ergebnisse seiner Masterarbeit stellt auch Thalmann in verständlichen Anleitungen zusammen, damit „GiveMe 5“-Helfer seine Prothesen vor Ort leicht nach drucken können: zur Nachahmung empfohlen.
>>> Info: Beine für Vögel
Auch für zwei Vögel hat Lars Thalmann schon Prothesen gedruckt.
Dem Afrikanischer Sekretär „Söckchen“, Star der Flugshow im Weltvogelpark Walsrode, musste 2017 nach einem Unfall in der Voliere der Unterschenkel amputiert werden. Lars Thalmann ersetzte ihn. Söckchen läuft noch immer fröhlich damit herum, sagt er.
Eine Zeitlang klapperte auch Storchenweibchen „Fee“ in einer Nabu-Auffangstation in Niedersachsen munter auf einem Bein aus dem Thalmann’schen Drucker. Das eigene hatte es bei einem Unfall verloren.