Witten. Die Uni Witten/Herdecke legt ihren Fokus noch mehr auf die ambulante Versorgung: damit Menschen durch bessere Ärzte besser betreut werden.

„Hausärzte“, erinnert sich Prof. Klaus Weckbecker, „waren für uns damals die Deppen, die, die die Patienten zu spät in die Klinik schickten.“ Nach dem Medizinstudium ging er in die physiologische Grundlagenforschung, befasste sich mit erblichen Muskelerkrankungen und Mäusen. Doch heute ist der 54-Jährige: Hausarzt in Bad Honnef. Gemeinsam mit Prof. Achim Mortsiefer leitet er an der Uni Witten/Herdecke (UWH) zudem das neue, bundesweit einzigartige Institut für Allgemeinmedizin (IAMAG), das einzige an einer deutschen Hochschule mit zwei vollwertigen Lehrstühlen. Nicht, weil er jeden Studierenden zum Hausarzt oder zur Hausärztin machen will, „aber jeden angehenden Mediziner zu einem guten Arzt“.

Hausärzte, erklärt Weckbecker, seien die Basis der Gesundheitsversorgung. Nur ein Prozent aller Menschen würde irgendwann im Leben einmal in einer Uniklinik betreut. „Aber unsere Studierenden bilden wir in Deutschland ausschließlich an solch hochselektierten Patienten aus.“ Im Medizinstudium bekämen es die angehenden Ärzte und Ärztinnen eher mit sehr seltenen, schweren Krankheitsbildern zu tun, als mit denen, die ihnen später im Alltag tagtäglich begegnen würden. Die Wittener Uni konzentrierte sich früh auf ambulante Versorgung und Allgemeinmedizin, will beides mit dem neuen Institut weiter stärken – und verbessern. Bloß mehr Hausärzte auszubilden, um dem Mangel zu begegnen, würde hier nicht reichen: Gute Ärzte sollten es schon auch sein.

„Beispiele aus der Praxis sind authentischer als Fallberichte aus dem Lehrbuch“

Wenn er mal in Rente ist, zieht er vielleicht ins Revier: Bis dahin wohnt Klaus Weckbecker in Bonn. Seine Praxis in Bad Honnef mag er nicht aufgeben, nur weil nun auch Professor in Witten ist.
Wenn er mal in Rente ist, zieht er vielleicht ins Revier: Bis dahin wohnt Klaus Weckbecker in Bonn. Seine Praxis in Bad Honnef mag er nicht aufgeben, nur weil nun auch Professor in Witten ist. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Der vermeintliche Nachteil der privaten Hochschule, ohne eigenes Uniklinikum auskommen zu müssen, „stellt sich dabei als Vorteil heraus“, findet Weckbecker. Als er im Mai 2020 an die Wittener Uni kam, machte er zur Bedingung, dass er weiter als Hausarzt tätig sein dürfe, seine Praxis nicht aufgeben müsse. „Ich will nichts unterrichten, was ich nicht selbst als Praktiker kenne“, erklärt er. Seine Studenten sollen teilhaben an seiner Erfahrung. Hat er es in Bad Honnef mit einem interessanten Patienten zu tun, dreht er nicht selten ein Video vom Anamnese-Gespräch, bringt auch Fotos, EKG- und andere Befunde mit in den Wittener Hörsaal, oft mit Datum vom Vortag. „Praxis trifft Lehre. Das kommt authentischer rüber als Fallberichte aus dem Lehrbuch“, sagt Weckbecker. Sein Kollege Achim Mortsiefer, der seit Oktober Professor in Witten ist, sieht das genauso; er ist niedergelassener Allgemeinmediziner in Köln.

Prof. Achim Mortsiefer (Lehrstuhl „Allgemeinmedizin II und Patientenorientierung in der Primärversorgung“) leitet zusammen mit Weckbecker das neue Institut.
Prof. Achim Mortsiefer (Lehrstuhl „Allgemeinmedizin II und Patientenorientierung in der Primärversorgung“) leitet zusammen mit Weckbecker das neue Institut. © UWH

Auch hausärztliche Diagnostik wie Ultraschall- und EKG, an anderen Unis nur „Nischenangebote“, sind für Wittener Medizinstudenten künftig verpflichtender Teil der Ausbildung, in praktischen Prüfungen müssen sie nachweisen, dass sie diese Untersuchungsmethoden beherrschen. Das neue Sonografiegerät steht schon in Weckbeckers Büro. „Wir wollen“, sagt der Professor, „dass am Ende ein arztfähiger Mensch dasteht, der seine Patienten gut betreut.“

„Ohne Hausärzte funktioniert es nicht“

Auch in der Forschung spiegelt sich dieser Anspruch wider. „Unser Labor ist die Praxis“, glaubt Weckbecker. In Witten gehe es um „beweisbare Medizin“, Entscheidungen auf der Basis von Daten, nicht Meinungen. Geforscht werde aktuell darum auch an schwierigen Themen wie Polypharmazie, gendergerechter Therapie, Versorgung am Lebensende oder von Menschen ohne Versicherung.

„Wir sind da“, sagt der Professor selbstbewusst, „wo die anderen hinwollen“. Weckbecker nennt diese Entwicklung „überfällig“. Denn der Mangel an Hausärzten ist jetzt schon groß, und er wird wachsen. Auf der ganzen Welt, betont er, gebe es „kein funktionierendes Gesundheitssystem ohne Hausärzte. „Aber viele, die ohne Organspezialisten auskommen….“. Gerade in der Corona-Pandemie habe sich das erneut gezeigt. Viele der hochspezialisierten Kollegen seiner Generation verstünden gar nicht, „was einen Hausarzt eigentlich ausmacht“, dass der 80 Prozent aller seiner Patienten ganz allein versorge, ohne die Hinzuziehung eines Facharztes. Weckbecker will nicht, dass die Allgemeinmedizin intensiv „beworben“ wird („das nervt nur“); er will aber auch nicht, dass andere sie „schlecht reden“; er fordert schlicht „Gleichberechtigung für diese Fachrichtung“.

„Ich sitze mittags mit meinem fünf Kindern am Tisch“

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Weckbecker, der „erst auf dem zweiten Bildungsweg in der Praxis landete“, ist die nachhaltige Begeisterung für seinen Beruf unschwer anzumerken. Dass Hausärzte schlechter bezahlt werden als andere Mediziner? Für ihn und „für die meisten Studierenden tatsächlich kein Argument mehr“, sagt Weckbecker. Er sitze dafür mittags mit seinen fünf Kindern am Tisch. „Wir müssen viel arbeiten, keine Frage. Aber wann, können wir selbst bestimmen….“! Sein Beruf sei zudem „erfüllend“, kein Arzt verbringe mehr Zeit mit seinen Patienten als der Hausarzt. Kurzum: „Das Fach ist genial“. Nichts für Deppen also.

>>> INFO Hausarztmangel

Im Jahr 2035 werden in Deutschland rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt und fast 40 Prozent aller Landkreise unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein. Dies geht aus einer im Mai veröffentlichten Studie der Robert Bosch Stiftung hervor.

Bürger in Nordrhein-Westfalen zählten zu den besonders Betroffenen. Dort könnte es künftig schwierig werden, einen Hausarzt zu finden, heißt es in der Studie: „Im Extremfall müssen Patienten damit rechnen, in ihrem Umfeld keinen einzigen niedergelassenen Hausarzt zu haben.“