Essen. Gewarnt wurde vor dem Hochwasser - aber viele Menschen haben es nicht ernst genug genommen. Denjenigen fehle es an Risikokompetenz, so Experten.

Manche Menschen haben die Unwetterwarnungen der vergangenen Tage nicht bekommen. Viel mehr Menschen aber haben sie anscheinend erhalten – und nicht ernst genommen. Den Deutschen fehlt es oft an Risikokompetenz, warnen Experten. Mit anderen Worten: Sie fürchten sich vor den falschen Dingen.

Was genau ist Risikokompetenz?

Für Psychologen ist Risikokompetenz „die Fähigkeit, informiert, kritisch und reflektiert mit bekannten und unbekannten Risiken der modernen Welt umzugehen“. Ein sehr schönes Beispiel dafür, wie sie versagen kann, nennt – unabhängig von der derzeitigen Situation – Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, in seinem Buch „Risiko“. „Warum fürchten wir, von einem Hai gefressen zu werden, verschwenden aber keinen Gedanken daran, dass wir auf dem Weg zum Strand bei einem Autounfall sterben könnten?“

Ist Risikokompetenz erlernbar?

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Ja, sagt Bildungsforscher Benedikt Heuckmann, der an der Uni Hannover zu Risikowahrnehmung und Risikokompetenz bei Gesundheits- und Umweltthemen forscht. Ein Anfang wäre es seiner Meinung nach schon, wenn in Schulen ein kompetenter Umgang mit Risiken gelehrt würde. „Man muss lernen, komplexe Systeme zu verstehen, ein Risiko zu filtern und zu erkennen, wann es einen selbst betrifft.“

Was hat das alles mit dem Hochwasser zu tun?

Viel. Immer wieder haben Retter in den vergangenen Tagen davon berichtet, dass Aufforderungen zur Evakuierung missachtet wurden. „Wird schon nicht so schlimm werden“, sei eine der Antworten auf die Anordnung gewesen, dass Haus sofort zu verlassen. Deutsche würden in Umfragen eher technische Gefahren nennen, vor denen sie sich fürchten, weiß auch Ortwin Renn, Experte für Umwelt- und Risikosoziologie. „Natur kommt eher als Park mit Enten und Schwänen daher“, sagt der Professor. „Nicht als Naturkraft mit Gewalten.“ Das liege, sagt Renn, vor allem daran, dass Deutschland bisher weitgehend gut davongekommen sei, wenn es um Naturgefahren geht.

Muss man öfter warnen?

Schon 2020 hat der Deutsche Wetterdienst bundesweit rund 164.000 Wetter- und Unwetterwarnungen ausgesprochen. 6.040 davon waren Unwetterwarnungen und 514 „extreme Unwetterwarnungen“. Schon das ist aus Sicht von Experten sehr viel. Christoph Schöneborn, Sprecher des Landesfeuerwehrverbandes NRW, warnt vor einem „Gewöhnungseffekt“. Die Menschen könnten abstumpfen, gibt auch Isabella Heuser, Direktorin der Berliner Klinik und Hochschulambulanz für Psychologische Medizin, zu bedenken. „Natürlich sollte man grundsätzlich immer vorbereitet sein. Aber niemand kann ständig in Alarmbereitschaft sein. Das ist physiologisch nicht auszuhalten.“

Und weniger warnen?

„Eine Warnung, die nur selten kommt, bekommt natürlich eine höhere Aufmerksamkeit“, sagt Heuser. Auf der anderen Seite stand der DWD schon vor Jahren in der Kritik, weil er angeblich nicht ausreichend über drohende Unwetterlagen informiert habe. Seitdem, heißt es unter Meteorologen, warne man lieber einmal zu viel.

Kann man nicht noch präziser warnen?

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Daran wird gearbeitet. Mit dem „Seamless INtegrated FOrecastINg sYstem—SINFONY“-System, kurz Sinfony genannt, will der DWD – an dieser Stelle sehr vereinfacht gesagt - schon bald sein Regenradar nahtlos mit seinen Wettermodellen verknüpfen. Damit ließen sich, nennt Franz-Josef Molé, der Leiter der Vorhersage- und Beratungszentrale des Deutschen Wetterdienstes, dann nicht nur Niederschläge vorhersagen, sondern auch die Pegelstände, die sie einige Stunden später viele Kilometer weiter auslösen.

Wie erfahren die Betroffenen dann von der Gefahr?

Zum Beispiel durch das „Cell Broadcast“, bei dem präzise nur Handys in einer Funkzelle eine Warnung erhalten. Was die Zahl der Meldungen natürlich reduziert. „Aber“, ist Feuerwehrsprecher Schöneborn überzeugt, „ein System allein kann das nicht schaffen.“ Nur mit einer Kombination von Warnungen über Sirenen, Medien und Handys könne man die Menschen erreichen.