Bochum/Siegen. Im Landkreis Siegen-Wittgenstein sollten 30.000 junge Menschen geimpft werden. Das Projekt wurde nun wegen Kommunikationsproblemen gestoppt.
Die von vielen Forschern und Politikern mit Spannung erwartetet Impfstudie unter Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren in Siegen-Wittgenstein droht offenbar an politischen Wirrnissen zu scheitern. Eigentlich sollten bereits Dienstag, 13. Juli, die ersten Impfungen in diesem Rahmen im Siegener Impfzentrum durchgeführt werden. Der Start wurde jedoch seitens der Kreisverwaltung abgesagt. Begründung: Man warte noch auf eine schriftliche Sonder-Genehmigung des NRW-Gesundheitsministeriums. Die lag schließlich am Dienstagabend vor. Das Ministerium meldete: Nun könne es losgehen.
Am späten Abend die neuerliche Volte: Der Kreis Siegen-Wittgenstein teilte auf seiner Homepage mit: Das Projekt könne doch nicht wie geplant im Siegener Impfzentrum des Landes NRW stattfinden. Der am Abend eingegangene Erlass des NRW-Gesundheitsministeriums mache dies durch diverse organisatorische Auflagen faktisch unmöglich: Etwa durch ein Verbot, das medizinische Personal des Impfzentrums für die Studie einzusetzen bis hin zur Aussage, dass das Land NRW eine flächendeckende Impfung von Kindern aufgrund der Empfehlung der STIKO inhaltlich nicht unterstütze.
Im Ergebnis müsste eine vollständige örtliche, organisatorische, finanzielle und personelle Trennung zwischen Impfzentrum und der Impfung im Rahmen der Studie erfolgen. Da dies nicht zu leisten sei, könne die Studie nicht am Impfzentrum durchgeführt werden. Nun ist unsicher, wie die Beteiligten Wissenschaftler und Projektpartner weiter verfahren. Das Forschungsprojekt solle wichtige Aufschlüsse darüber erbringen, unter welchen Voraussetzungen zum Beispiel ein Schulbetrieb unter Corona-Bedingungen am besten organisiert werden soll.
Formales Hin und Her um Sondererlass der Regierung
Hintergrund des formal-politischen Wirrwarrs: Im Kreis Siegen-Wittgenstein sollen wissenschaftlich begleitet rund 30 000 Schüler ab zwölf Jahren und Studierende bevorzugt geimpft werden - und zwar im Impfzentrum. Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren werden nach Angaben des Ministeriums aber normalerweise nicht in den NRW-Impfzentren geimpft, da das Land der Auffassung sei, dass dies „eine fundierte medizinische Aufklärung und Beratung“ durch den Kinder- oder Hausarzt erfordere.
Das Gesundheitsministerium erklärte weiterhin, es habe erst in der vergangenen Woche erfahren, dass am Dienstag mit der Studie begonnen werden solle. Die notwendigen Informationen zur Prüfung seien erst am Wochenende eingegangen. Diese Gemengelage erklärt möglicherweise das Hickhack um das Projekt. Unbestritten ist: Die Ergebnisse der Studie werden dringend gebraucht.
Bislang keine Impfung in den Zentren für Jugendliche
Die Forschenden der Universität des Saarlands und der Universitätskinderklinik Bochum wollen mit der vergleichenden Untersuchung herausfinden, wie sich die Impfung der jüngeren Altersgruppen auf das Infektionsgeschehen auswirkt. In einer Befragung wollen sie zudem Erkenntnisse über die Impfbereitschaft sammeln. Aus Sicht der beteiligten Mediziner überwiegt der Nutzen einer Corona-Impfung auch in der jüngeren Altersgruppe das Risiko schwerer Nebenwirkungen.
Forscher widersprechen den Empfehlungen der Stiko
Bei der Vorstellung der Pläne hatten die Projektbeteiligten betont, dass sie zur Pandemieeindämmung stark auf höhere Impfraten bei jungen Menschen setzten. Sie hoffen, durch eine zeitige Immunisierung gegen das Coronavirus eine raschere und stabilere Rückkehr in Schule und Universität zu ermöglichen. Mit dem Drängen auf die Impfung auch von Jugendlichen ab zwölf Jahren widersprechen sie der eher zurückhaltenden Linie der Ständigen Impfkommission (Stiko) in der Frage von Impfungen für die 12 bis 17-Jährigen.
Diese hat bisher keine generelle Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ausgesprochen. Sie empfiehlt die Corona-Impfung in der Altersgruppe bisher nur bei bestimmten Vorerkrankungen. Das Gremium begründete dies unter anderem damit, dass das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung für die Altersgruppe gering sei. Außerdem lieferten die bislang verfügbaren Daten noch keine ausreichenden Beweise für die Sicherheit des Impfstoffs für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren.
Dr. Folke Brinkmann, Kinderärztin und pädiatrische Pulmologin an der Bochumer Universitätskinderklinik, ist eine der beteiligten Forschenden. Spannend für sie ist vor allem der neue Ansatz: „Meines Wissens gibt es eine solche breit angelegte Vergleichsstudie bislang noch nicht.“ Dabei habe sich in der dritten Welle der Pandemie bereits „angedeutet“, dass junge Menschen – im Gegensatz zu kleineren Kindern – doch häufiger als zunächst angenommen das Coronavirus weitertragen. Unbemerkt meist, weil sie meist nicht wirklich erkranken. „Die spüren oft keine Symptome und sind dazu sehr aktiv und mobil“, so die Bochumer Expertin, die zwei weitere Studien zum Thema „Kinder und Corona“ betreut. Tatsächlich, ergänzte Thorsten Lehr, Professur für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, bei der Vorstellung des Projekts, sei die Inzidenz in der betreffenden Gruppe der Jüngeren seit Monaten doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt. „Es ist uns ein großes Anliegen, da zu intervenieren.“
Zahl der Suizidversuche bei jungen Mädchen hat sich verdoppelt
So sieht es auch Dr. Thomas Gehrke, Leiter des Impfzentrums Siegen-Wittgenstein, der das Projekt zusammen mit Lehr vor nur drei Monaten anstieß: Er habe selbst erlebt in den vergangenen Monaten, wie sich seine Enkelkinder verändert hätten – weil sie keine Freunde mehr treffen durften, der Sport wegfiel und Schule nur noch digital stattfand... „Uns droht zudem die erste Generation von Studierenden, die ihre Uni von innen nie gesehen haben“, fügte Prof. Alexandra Nonnenmacher, Prorektorin für Bildung an der Uni Siegen.
Zur Studie gehört eine Online-Befragung der Teilnehmer, in der es um ihre Motive für die Impfung geht, aber auch um ihre Lebensqualität. Seit Beginn der Pandemie hätte sich die Zahl der Suizidversuche bei jungen Mädchen verdoppelt und die der Computer-spielsüchtigen jungen Männer verdreifacht, erklärte Prof. Eva Möhler, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum Saarland: „So kann man es nicht lassen, wir müssen denen etwas anbieten.“ Teilhabe sei ein „vitales Grundbedürfnis“ junger Menschen.
Bereits jetzt gibt es Anfragen - auch für fünfjährige Kinder
277.300 Menschen leben im Kreis Siegen-Wittgenstein, 18,4 Prozent davon sind dem jüngsten Demografiebericht zufolge jünger als 20 Jahre. 30.000 Schüler und Studenten zu impfen hieße: beinahe alle zu impfen. Ob das gelingen kann, ist eine der zentralen Fragen des Pilotprojeks. Lehr ist zuversichtlich, dass man eine „signifikante Zahl von Probanden“ zusammen bringe. Die ersten Anfragen liegen tatsächlich bereits vor, sogar für Fünfjährige, berichtete Gehrke. Am Impfzentrum, versichert dessen Leiter, werde es sicherlich nicht liegen: 2000 Impfungen täglich könnte man dort vornehmen. Zuletzt lag die Auslastung bei: 400.
Wenn die Studie startet, können Jugendliche über die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippen oder die Impfhotline des Kreises einen Termin vereinbaren, es soll aber auch Angebote für Spontan-Entschlossene oder in Zusammenarbeit etwa mit Schulen und Sportvereinen geben. Die Ethikkommission der Ärztekammer Westfalen-Lippe hat bereits ihr Okay gegeben.
„Ergebnisse von hohem Stellenwert für Politik und Stiko“
Die Ständige Impfkommission, denkt Brinkmann, die Bochumer Expertin, werde großes Interesse an den Siegener Erkenntnissen haben. Bislang empfiehlt die Stiko die Corona-Impfung nur besonders gefährdeten Jugendlichen (mit Vorerkrankungen) oder im Umfeld von Risikopatienten. Womit sie „erst einmal richtig, nach strengen wissenschaftlichen Kriterien auf der Basis verfügbarer Daten“ handele, sagt Brinkmann – obwohl sie persönlich skeptisch ist, ob sich die angestrebte „Herdenimmunität“ ohne die Impfung der Jüngeren überhaupt erreichen lasse. „Die Stiko legt den Fokus auf eine Risikobewertung für jeden einzelnen“, erklärt sie. „Und was die Folgen der Impfung für junge Menschen angeht, fehlen uns tatsächlich noch die Daten.“ Das Siegener Projekt soll helfen, sie zu sammeln und wissenschaftlich auszuwerten.
Für die Bochumer Medizinerin sind die Ergebnisse der Studie aber noch aus einem anderen Grund von „hohem Stellenwert“: Sie könnten helfen, hofft sie, „der Politik die Entscheidung über den Schulbetrieb nach den Sommerferien zu erleichtern.“ Denn wenn in sechs Wochen die Schulferien enden und womöglich ein weiteres Mal über Distanz- oder Präsenzunterricht entschieden werden muss, „wird’s wieder was geben“, ist sich die Expertin sicher. Steigende Infektionszahlen zu diesen Zeitpunkt etwa.
In ihrer Klinik impft Brinkmann schon jetzt junge Patienten, wenn die und ihre Eltern darum bitten. „Auch außerhalb der strikten Stiko-Empfehlung!“ Die Gründe für den Wunsch nach einer Impfung seien im Übrigen seien „so unterschiedlich wie die Familien selbst“: Angst vor der Erkrankung des Kindes spiele eine wichtige Rolle, viele wollten aber auch weitere Infektionswellen, Quarantänesituationen und einen weiteren Lockdown mit Schulschließungen verhindern. „Ich mache mir keine Sorgen, wenn Familien nach einer Impfung fragen“, sagt Folke Brinkmann. „Ich halte das es für sinnvoll.“
>>>>Info: Die rechtliche Situation
Der Wirkstoff des Herstellers Biontech/Pfizer ist für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen. Bei Minderjährigen ist die Zustimmung der Eltern für eine Impfung grundsätzlich erforderlich. Eventuelle Nebenwirkungen oder Impfschäden werden wie bei allen anderen zugelassenen Impfungen anerkannt. Damit seien Impfling und impfender Arzt rechtlich abgesichert, so Folke Brinkmann.
Die Ständige Impfkommission empfiehlt das Vakzin bislang nur für Über-18-Jährige. Jüngere (12 bis 17) sollten gegen Corona geimpft werden, wenn bei ihnen Vorerkrankungen vorliegen, es Risikopatienten im nahen Umfeld gibt oder sie beruflich besonderer Gefährdung ausgesetzt sind.
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