Gelsenkirchen. 2019 startete das Modellprojekt „ZUSi“, weil jedes Kind ein Recht auf Bildung hat. Nun gibt’s erste Zwischenergebnisse – und „strahlende Augen“.
Paula, Layal, Jamal, Louis und Jack gehen ab August in die erste Klasse – und sind mächtig stolz darauf. „Aber in allen Schulferien“, versichern die Sechsjährigen Maren Bredereck mit großem Ernst, „kommen wir wieder her, zu dir in unsere Kita.“ Was sie ihrer „Bildungsbegleiterin“ und ihrer Kita an der Munscheidstraße, einer der sieben des Gelsenkirchener Modellprojekts „Zukunft früh sichern“ verdanken, können die fünf noch nicht in Worte fassen. Aber fühlen.
Paula und ihre Freunde gehören zu den 136 Mädchen und Jungen der ersten Generation des bundesweiten Leitprojekts „ZUSi“. 2019 starteten es Stadt und RAG-Stiftung für alle Vierjährigen in allen städtischen Kitas im Stadtteil Ückendorf. Das Ziel: passgenaue, individuelle Förderung für jedes einzelne Kind, gleiche Bildungschancen für alle -- unabhängig von sozialer Herkunft oder finanziellen Möglichkeiten. Die Methode: Stärken und Talente entdecken, gezielte Angebote machen. Erste Zwischenergebnisse des Pilotmodells liegen nun vor. Sie mündeten in eine lesenswerte „Handreichung“ mit sperrigem Titel: „Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen“.
„Jedes zweite Kind hier lebt von staatlichen Transferleistungen“
Jedes zweite der 85 Kinder in ihrer Kita lebe von Transferleistungen, berichtet Leiterin Sabrina Albrecht. Nirgendwo im Land ist die Kinderarmut größer als in Gelsenkirchen, zeigte 2020 eine Bertelsmann-Studie. Ückendorf sei „bunt“, sagt Jessica Stettinus, ZUSi-Projektkoordinatorin. „Nicht alle sind arm. Aber hier erzählen die wenigsten Kinder nach den Ferien von einem tollen Urlaub oder nach dem Wochenende vom Besuch im Freizeitpark“. Hier melden Eltern ihren Nachwuchs vom Ausflug an Regentagen ab – weil sie keine Gummistiefel zahlen können. Hier würden Vorschulkinder gerne zuhause „Buchstaben malen üben“ – nur gibt es daheim weder Papier noch Buntstifte. ZUSi, wohlgemerkt, richtet sich an alle Kinder, ob arm oder nicht. Unentdeckte Talente schlummern in jedem Mädchen, jedem Jungen.
Sieben Bildungsbegleiter unterstützen die Erzieherinnen
Sieben Bildungsbegleiter wie Maren Bredereck wurden für das Projekt eingestellt; Eltern und Kindern das Projekt offiziell vorgestellt; Erzieherinnen in Fortbildungen für das Thema sensibilisiert (Stittinus: „In der Ausbildung kommt Armut und wie man damit umgeht nicht vor“). Dann fingen sie an zu machen.
Pappten etwa in der Kita Munscheidstraße als erstes einen Zettel auf einen leeren Schrank. „Nehmen Sie mit, was Sie brauchen! Bringen Sie mit, was Sie nicht mehr benötigen!“, ist darauf zu lesen. Während der Lockdowns, als es Kinderkleidung auf Flohmärkten nicht mehr zu erstehen gab, rückten sie den Schrank vor die Tür, damit er erreichbar blieb; bewährt hatte er sich schon zuvor. Heute steht er im Garten – und in ihm nicht nur ein Paar winziger Gummistiefel, sondern gleich vier. Spiele, Bücher, Shirts und vieles mehr gibt’s in der „Tauschbörse“ ebenfalls zum Nulltarif. „Kommt gut an“, sagt Albrecht.
Die Kita erkundete mit den Kindern die Nachbarschaft, ihren „Sozialraum“, die Natur, Theater und Musikschulen. In Kooperation mit ortsansässigen Vereinen entstanden eine Reihe von Angeboten, sogar einen BMX-Club aus Buer begeisterte Maren Bredereck für Ückendorf – und den städtischen Förster dafür, im Wald eine kleine Teststrecke für Mini-Radler anlegen zu dürfen. Dass es finanzielle Förderung für die Mitgliedschaft in Sportvereinen gibt, war vielen Eltern neu. ZUSi erklärte, wie man daran kommt; ermöglichte sogar Reiten und Tennis.
Forschen wie die Großen
Den Leiter des Schülerlabors im nahen Wissenschaftspark überzeugte Bredereck davon, sich auch für Vorschulkinder zu öffnen. Einmal in der Woche dürfen die ZUSi-Kinder nun im „Energylab“ unter Anleitung „forschen“ -- wie die Großen, eigene Kittel und Namensschilder inbegriffen. Arme Eltern, erklärt Yvonne Bakenecker (GeKita-Teamleitung und Fachberaterin), glaubten selten an naturwissenschaftliche Stärken ihrer Söhne oder Töchter, sähen sie eher in sozialen Berufen. Darum sei es wichtig, jedem Kind wenigstens Schnupperbesuche in solchen Bereichen zu ermöglichen – um herauszufinden, ob vielleicht Interesse besteht, eine Stärke entdeckt werden kann, die es zu fördern gilt. Wer Feuer fing im Energylab, durfte wieder kommen – „und erzählt noch heute davon“, sagt Bakenecker.
Natürlich redeten sie auch mit den Eltern, mit allen, alle sechs Monate einmal, in 1-zu-1-Gesprächen. An gutem Willen mangele es bei den wenigstens, sagt Yvonne Bakenecker. „Aber wer selbst schlechte Erfahrungen mit Schule gemacht hat, braucht ein Mentoring, damit er sein Kind auf unterstützen kann.“
Kindergeburtstage werden nun anders gefeiert
In den sieben städtischen Kitas in Ückendorf feiert man Kindergeburtstage heute zudem anders als früher: ohne Stress, ohne Konkurrenzkampf, wer die tollste Torte oder die vollsten Geschenketüten für die Kumpel mitbringt, ohne Druck, dafür Geld auszugeben. „Wer in Armut lebt“, meint Stittinus, „verlernt die soziale Teilhabe.“ In Ückendorfs Kitas wird sie geübt: Alle Kinder sind an ihrem Geburtstag Gastgeber einer schönen Feier, mit Verantwortung, Aufgaben und Krönchen. Gebacken aber wird gemeinsam.
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Es sind Kleinigkeiten wie diese, die in Summe einen großen Unterschied machen. Einfache Dinge, die helfen. Dass parallel zu Elternveranstaltungen etwa eine Kinderbetreuung (auch für Geschwister) organisiert wird. Und doch machte Corona manch guter Idee einen Strich durch die Rechnung – während der Förderbedarf in der Zeit der Pandemie sogar wuchs. An der Munscheidstraße erkannte man das rasch, , legte sich ins Zeug. Erzieherinnen bestückten aus ihrem „Spieleverleih“ Taschen mit Material gegen die Langeweile und brachten sie den Familien. Sie organisierten „Schatzsuchen“ für Kinder und Eltern im Wald, drehten weit über 100 Bewegungs-, Vorlese- und Experimentier-Videos, in vier Sprachen. Und richteten nicht wenige Emailadressen ein, um sie auch an alle verschicken zu können. Die Kita rief kleine Wettbewerbe aus, etwa: Baue einen Turm, der mindestens so groß ist wie Du! – und hängte die Fotos in ihr großes Fenster – genau wie selbst geschriebenen Riesen-Buchstaben der Vorschulkinder, die zusammen mit ihrer „Hausaufgabenpost“ ein Etui mit dem dafür Nötigen (Stifte!) erhielten. „Habt keine Angst“, sagten die Erzieherinnen den Eltern. „Wenn Ihr nicht zu uns kommen könnt, kommen wir zu euch.“
RAG-Stiftung und Stadt: Nun geht es an den Grundschulen weiter
„Wir haben getan, was möglich war“, seufzt Albrecht. Ihre 22 „Großen“, die sie in diesen Tagen verabschiedet, darunter Paula, Layal, Jamal, Louis und Jack, lässt sie „dennoch „mit durchwachsenem Gefühl“ ziehen. „Doch letztendlich“, sagt die Kita-Leiterin, „wissen wir ja nicht, wo wir jetzt ohne unser Projekt ständen…“. Dass die kleinen Ückendorfer trotz Corona profitiert haben von ZUSi, steht für Yvonne Bakenecker „außer Frage“: „Wir wissen, dass es wirkt. Ich seh doch die strahlenden Augen.“ Tatsächlich soll das Pilotprojekt nun ausgeweitet werden – auf weitere Kitas vor Ort und auf die Grundschulen. Auch die RAG-Stiftung, die ZUSi mit 3,5 Millionen Euro fördert, signalisierte schon: Wir machen weiter mit. Vorstandsmitglied Bärbel Bergerhoff-Wodopia: „Was wir in den Kitas begonnen haben, setzen wir nun in den Grundschulen fort. So kann ZUSi nachhaltig wirken. Und Nachhaltigkeit ist eines unser obersten Ziele, wenn es um unsere Bildungsförderung geht.“
Nachdem das Projekt jüngst auf dem Jugendhilfetag vorgestellt wurde, meldeten sich im Übrigen auch schon Verantwortliche aus anderen Städten. Man sei sehr interessiert an den Erfahrungen, hieß es unter anderem aus München. Gelsenkirchen gibt sie gern weiter. Nachahmung wärmstens empfohlen.