Essen. In Deutschland hängt Bildungserfolg von sozialer Herkunft ab, sagen Experten. Um den Kreis der Armut zu brechen, braucht es gezielte Maßnahmen.
Dr. Irina Volf vom Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS e.V.) begleitet das Gelsenkirchener Projekt wissenschaftlich. Die endgültige Evaluation steht zwar noch aus, doch erste Erkenntnisse hat die Psychologin bereits.
Die detaillierte Analyse der Lebenslage von Kindern in Ückendorf, in materieller, kultureller, sozialer und gesundheitlicher Hinsicht, war Ausgangspunkt für das weitere Handeln. Wo liegen die Hauptprobleme in Ückendorf?
Volf: Kinder, die in armen Familien aufwachsen, schneiden in allen Bereichen schlechter ab als andere, sie haben weniger kognitive, soziale und sprachliche Kompetenzen, dazu häufiger Probleme mit Fein- und Grobmotorik. Überrascht hat mich, dass der Unterschied in den Entwicklungsniveaus bei 20 Prozentpunkten liegt – in einem Alter von nur vier Jahren. (Im Durchschnitt erreichten die nicht armen Kinder rund 70 und die armen Kinder 50 Prozent des altersgemäßen Entwicklungsniveaus.)
Weshalb man mit der Förderung im Vorschulalter beginnen muss?
Je früher man anfängt, desto besser. Ohne zusätzliche Förderung reduzieren sich die Chancen benachteiligter Kinder auf einen lückenlosen Bildungsweg dramatisch. Es wäre naiv zu glauben, mit der Einschulung könnte sich die Lage von allein ändern. Um den Kreis der Armut setzt zu brechen, braucht es gezielte Maßnahmen und zwar so früh wie möglich.
Ist da nicht vor allem die Politik gefordert?
Natürlich, Armut entsteht infolge politischer Entscheidungen. Wie viele Kita-Plätze in einer Kommune vorgehalten werden, nach welchen Standards die Kindertageseinrichtungen ihr Personal aufstellen, wer einen Platz in der Kita bekommt und wer nicht, sind Beispiele politischer Entscheidung im Bereich der frühen Bildung. Die Vergabe der Plätze ist gesetzlich geregelt und hängt vor allem von der Erwerbstätigkeit der Eltern ab. Kindern, deren Eltern aus welchen Gründen auch immer arbeitslos sind, werden dadurch viele Chancen strukturell verwehrt. Dabei ist Bildung ein Kindesrecht und soll allen Kindern gleichermaßen zustehen.
Warum ist ein Projekt wie ZUSi, das in Kitas angesiedelt ist, so wichtig?
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Weil dort das Wissen um die Auswirkungen von Familienarmut auf Lebenslagen der Kinder wachsen muss, weil dort armutssensibel agiert werden muss. Es gab im Gelsenkirchener Projekt viele Aha-Effekte bei den Fachkräften, als sie erkannten, wie anders sich Kinder aus armen und finanziell besser gestellten Familien entwickeln. Wie viel etwa die Neuorganisation der Geburtstagsfeiern bringt, hat weitreichende Reflexionsprozesse in den Teams angekurbelt.
In Ihrer jetzt veröffentlichten Handreichung finden sich zahlreiche Praxistipps, die sich bewährt haben. Welcher ist Ihr liebster?
Der Spieleverleih! Arme Kinder haben oft keinen Zugang zu hochwertigen Spielen und anregenden Materialien. Jetzt plötzlich konnten sie ausleihen, was sie interessierte, und daheim testen. Das förderte nicht nur ihre kognitive Entwicklung, sondern ermöglichte es ihnen auch, qualitativ wertvolle Zeit mit ihren Familien zu verbringen. Viele Eltern – übrigens unabhängig von finanziellem Status der Familien – berichteten anschließend, in den Interviews, sie hätten ja gar nicht geahnt zuvor, dass bestimmte Spiele ihren Kindern Spaß machten – und verstanden das als Anregung, selbst gezielt welche anzuschaffen.
Wie sehr hat das Projekt unter der Pandemie gelitten?
Corona hat das Projekt vor große Herausforderungen gestellt. Doch diese Zeit hat erstaunlicherweise auch Positives gebracht: Denn die Kita-Kräfte haben Großartiges geleistet, viel digital umgesetzt, hunderte Videos in mehreren Sprachen gedreht, die Elternarbeit stark intensiviert, den Familien Vorschläge geliefert für spannende Unternehmungen mit ihren Kindern, die nichts kosten. Schatzsuchen im Wald etwa oder naturwissenschaftliche Experimente. Manche Kinder waren zuvor nie mit ihren Eltern im Wald, jetzt sind sie es regelmäßig – und alle genießen das. Außerdem zeichnete sich in den Interviews ab, dass Kinder, die in die Notbetreuung kamen, sogar große Entwicklungssprünge machen konnten. Im Gegensatz zu denen, die daheim bleiben mussten. Wie weit die Schere nun auseinander klafft, werden wir noch quantitativ prüfen..
Lässt sich das Gelsenkirchener Modell auf andere Städte übertragen?
Ja, absolut. In den nächsten zwei Jahren werden wir schauen: Was haben wir im Modellprojekt in sieben Kitas gelernt und wie können wir das in die Praxis anderer Kitas transferieren? Wir versprechen uns gute Ergebnisse vom Konzept des armutssensiblen Handelns. Doch man muss ganz klar sagen: Das hat auch mit Personalressourcen zu tun. Dass in Gelsenkirchen dank der Förderung der RAG-Stiftung zusätzliche Kräfte eingestellt, geschult und wissenschaftlich begleitet werden konnten, hat enorm geholfen.