Ruhrgebiet. Pleitewelle oder Neustart? So können die Innenstädte im Ruhrgebiet die Folgen der Coronakrise nach Einschätzung von Experten meistern.
Totgesagt werden die Innenstädte im Ruhrgebiet schon länger, spätestens aber seit Corona wollen Pessimisten schon das Grab ausheben. Viele Experten aber sehen gar nicht so schwarz in die Zukunft. Die Pandemie, sagen sie, kann auch eine echte Chance sein.
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Was waren das für Monate. Lockdown. Kein Mensch in der Stadt. Lager voll, Kasse leer während die großen Internethändlern mit dem Geld zählen kaum nachkommen. Innenstädten, denen es schon vor Corona nicht gut ging, geht es jetzt oft richtig schlecht. „Der Handlungsdruck ist größer geworden“, sagt Jens Nussbaum vom Dortmunder Stadtplanungsbüro „Stadt+Handel“. In Klein, Mittel- und Großstädten. „Die Gegebenheiten sind unterschiedlich“, weiß Paul Eisewicht, der an der TU Dortmund zum Thema Konsum forscht. „Aber der Druck ist überall da.“
„Ich sehe da eine echte Zukunft“
Denn die Zeit drängt. „Der Strukturwandel, der unter normalen Umständen rund zehn Jahre gedauert hätte, muss jetzt in ein bis zwei Jahren stattfinden“, erklärt Nussbaum. Das sei aber kein Grund, die Flinte nun ins Korn zu werfen. „Die Stadt ist nicht im Eimer“, ist Nussbaum überzeugt. „Ich sehe da eine echte Zukunft.“ Corona, stimmt auch Nussbergs Kollege Stefan Postert zu, sei „eine Riesenchance, neue Urbanität herzustellen“. „Dafür ist es allerdings nötig, eine ganz andere Art von Stadt zu entwickeln.“
Multifunktional sollte sie sein. Ein Platz, an dem man lebt und oft auch wohnt. Mit Volkshochschule, Seniorenzentrum und Kindergarten. Mit Spielplätzen und Kulturbühnen. Mit Kino, Kneipen, Bücherei und Bürgerzentrum. Mit Start-Up-Unternehmern und Pop-Up-Stores aber auch mit dem alteingesessen Handel und Handwerksbetrieben. Und natürlich mit – möglichst abwechslungsreicher Gastronomie. „Man muss den Leuten einen Grund geben, in die Stadt zu gehen, obwohl es eigentlich keinen Grund mehr dafür gibt“, fasst Postert zusammen. Und man muss es ihnen so einfach wie möglich machen, dorthin zu kommen. Sei es durch Parkplätze, ein gut ausgebautes Nahverkehrsnetz oder neue Fahrradwege.
„Einkaufen ist ein emotionales Erlebnis“
„Die Erlebniskarte ausspielen“, nennt es Eisewicht, Das kann man machen, indem man - wie ein großes Sportgeschäft in Osnabrück - einen großen Pool mit stehender Welle zum Surfen integriert. Das kann man aber auch schon machen, indem man den Kunden einen Kaffee serviert, bevor es zur Anprobe geht. Manchmal muss es nicht einmal das sein. „Einkaufen“, sagt Eisewicht, „ist ja an sich ein körperlich-emotionales Erlebnis. Andere Menschen, Blicke, Geräusche, Gerüche, Gespräche – all das gehört dazu.“ Und all das kann das Internet kaum oder gar nicht bieten.
Grundvoraussetzung, aber wahrscheinlich auch das größte Problem, um neue Wege zu beschreiten: Es müssen sehr viele Stellen zusammenarbeiten. Händler, Gastronomen, Behörden und Immobilienbesitzer – um nur mal die wichtigsten davon zu nennen. Wichtig, sagt Ute Marks von „Stadt+Handel“, sei deshalb, dass man nicht übereinander sondern miteinander rede. Nur so lasse sich eine Innenstadt schaffen, in die die Menschen gerne kommen.
Ohne Unterstützung der Kommunen geht nichts
Man muss sie allerdings schnell schaffen. Denn vielen Händlern steht das Wasser nach dem langen Lockdown bis zum Hals. Immobilienbesitzer, sagt Eisewicht dann auch, seien gut beraten, über die Höhe der Miete nachzudenken. Sie womöglich für einige Zeit zu senken, sei vielleicht besser, als den Händler wegen Insolvenz völlig zu verlieren und gar nichts mehr zu kassieren.
Auch die Kommunen können helfen, können einspringen, unterstützen, entgegenkommen. Nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen aber trotzdem unbürokratisch handeln. „Ich bin gespannt, wie bereit die Politik ist, attraktive Konstellationen zu schaffen“, sagt Eisewicht. Die Bereitschaft wachse, hat Ute Marks festgestellt. „Aber es gibt noch Luft nach oben.“ Wirte, die nach einer Anfrage auf Vergrößerung der Außengastronomie vier Wochen auf eine Antwort warten müssen, dürften diese Einschätzung teilen.
Einzelhändler müssen Kompetenz zeigen
Und natürlich sind die Händler gefragt. In der einen Branche mehr, in der anderen vielleicht etwas weniger. Wer nach Kundenwunsch Ketten bastelt oder individuelle Kissen näht, hat es natürlich einfacher als ein Buchhändler oder der Fashion-Shop, in dem es all die Marken gibt, die es in allen anderen Shops und im Netz auch gibt – und dort oft günstiger und in größerer Auswahl. Aber selbst da gibt es Chancen, findet Eisewicht. Händler in der Stadt müssten Kompetenz zeigen, vor dem Mainstream unterwegs sein. „Nicht das Buch oder die Bekleidungsmarke zeigen, über die heute alles spricht, sondern heute schon das empfehlen, was morgen in aller Munde ist.“ Nicht einfach, weiß der Soziologe, „aber möglich“.
Und was ist mit dem Internet? Nicht jedes Geschäft müsse zwingend einen Online-Shop haben, sagt Ute Marks. „Aber“, sagt sie auch, „man muss sichtbar sein im Netz. Unabhängig von der Branche mit allen wichtigen Infos auftauchen, wenn der Firmenname in eine Suchmaschine eingetippt wird.“
„Nicht alle werden wieder auf die Beine kommen“
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Wer sich als Händler nicht bewege, da sind sich alle Experten einig, der werde auf der Strecke bleiben. „Man darf sich nichts vormachen“, sagt Marks. „Es werden nicht alle wieder auf die Beine kommen.“ So bitter das für jeden einzelnen auch sein mag, der Stadt muss es nicht zwangsläufig schaden. „Manchmal braucht eine Stadt auch neue Akteure.“ Vor allem, wenn sie gute Geschäftsideen haben. „Gut möglich“, sagt Nussbaum, „dass es Menschen gibt, die heute nicht mal ahnen, dass sie in sechs Monaten ein Geschäft eröffnen.“