Ruhrgebiet. Am Freitag geht die Fußball-Europameisterschaft. Von Euphorie ist im Ruhrgebiet bisher allerdings nichts zu spüren. Ob sich das noch ändert?
Am Freitag geht sie los, die Fußball-Europameisterschaft. Von Euphorie ist im Ruhrgebiet bisher allerdings nichts zu spüren.
Fast keine Fahne, egal wohin man schaut. Zumindest keine Schwarz-Rot-Goldene. Und so gut wie niemand läuft derzeit mit einem Trikot der Deutschen Nationalmannschaft durch die Straßen. Es wird ja auch kaum ein Public Viewing an den bekannten Stellen geben, zumindest kein wirklich großes. Immerhin: Wirte mit Außengastronomie setzen Hoffnung in das Turnier.
Große Public Viewings gibt es nicht
„Die Leute fragen, ob wir die Spiele zeigen, sagt der Herner Eventunternehmer Nobert Menzel und hat als Antwort eine große Leinwand im Biergarten des Gysenbergpark aufgestellt. Auch in vielen anderen Kneipen des Reviers bauen sie derzeit draußen – natürlich unter Beachtung der Corona-Vorschriften – große Bildschirme und Leinwände auf.
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Wer seine Gäste musikalisch auf den nächsten Kick einstimmen will, muss allerdings auf älteres Liedgut zurückgreifen. Einen offiziellen EM-Song gibt es zwar, nur ist der bisher in etwa so bekannt, wie der Ersatzkeeper von Nordmazedonien. „We are the People“ heißt das Lied und stammt vom DJ Martin Garrix, der sich dafür mit Bono und The Edge von U2 zusammengeschlossen hat. Chartnotierungen bisher? Fehlanzeige.
Auch der Handel reagiert sehr zurückhaltend
„Es fehlt die EM-Stimmung“, hat auch Martin Fassnacht, Direktor des Lehrstuhls für Strategie und Marketing an der WHU – Otto Beisheim School of Management in Düsseldorf festgestellt. „Man hat jedenfalls nicht das Gefühl, dass da etwas Großes losgeht.“ Darauf hat der Handel reagiert. Bei Aldi Süd gibt es neue Reihe von Emoji-Figuren, zu der auch ein Pokal, eine rote Karte oder eine Wurst im Brötchen gehören. Und Penny hat einige seiner Eigenprodukte äußerlich umgestaltet und etwa die Gulaschsuppe zum „Mannschaftstopf“ erkoren oder die Chips-Dose zur „Fan-Trommel“ gemacht. Aber all das ist kein Vergleich zur Zahl der Artikel, die sonst vor anderen großen Turnieren in den Regalen stehen.
„EM-Werber halten den Ball flach“ titelte das Branchenfachblatt „Lebensmittel Zeitung“ dann auch vor kurzem. Viele Firmen sein „vorsichtig“ geworden, bestätigt Fassnacht. Einige, weil sie auf ihren EM-Angeboten nach der Absage des Turniers im vergangenen Jahr sitzengeblieben sind. Die meisten aber, weil „Corona für viele potenzielle Kunden immer noch das beherrschende Thema ist. Wie kriege ich meine Impfung? Kann ich in Urlaub fahren? Die Menschen haben andere Themen im Kopf, als die Fußball-EM.“
„Fans fehlt der emotionale Zugang zum Team“
Das will Harald Lange, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des Deutschen Olympischen Sportbundes in Köln gar nicht ausschließen, sagt aber dennoch: „Eigentlich wären die Bedingungen für ein großes Fußballfest sehr gut.“ Nach Monaten der Abgeschiedenheit sei die Sehnsucht nach gemeinsamen Erlebnissen wie Fernsehgucken im Freundeskreis groß. Man müsse allerdings auch einen emotionalen Zugang zum Thema, sprich in diesem Fall zum Team auf dem Rasen haben. „Aber genau der fehlt vielen Menschen mittlerweile bei der Nationalmannschaft.“
Verloren gegangen sei er unter anderem beim Bemühen des Deutschen Fußballbundes (DFB), die Fanbasis für die Nationalmannschaft auf eine breitere Basis zu stellen. Zeitweilig kamen so tatsächlich mehr Menschen ins Stadion oder vor den Fernseher – mit echten Fußball-Fans aber hatten sie wenig zu tun. Weil es ihnen, so Lange, an Leidenschaft ebenso wie an Leidensfähigkeit fehlt. „Diese Leute kommen nur, wenn sie sicher sind, dass sie prächtig unterhalten werden. Sonst machen sie andere Dinge.“ Und für gute Unterhaltung, weiß Lange, reicht kein 1:0 gegen einen Gegner wie Frankreich. „Dafür muss es schon ein hoher Sieg sein.“ Und drumherum bitte genügend echtes Fan-Volk. Damit die Atmosphäre stimmt.
WM in Katar könnte Probleme verschärfen
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Schon lange fühle sich die Fan-Basis abgekoppelt, sagt der Experte. „Aber beim DFB gibt es keine Reflexionsbereitschaft in diesem Punkt. Da bleiben alle auf dem sinkenden Schiff.“ Ja sie befeuern sogar noch mal die Maschinen, um zur nächsten Weltmeisterschaft 2022 zu kommen. Ein Turnier im Dezember mit einem Finale wenige Tage vor Weihnachten in einem Staat wie Katar , „es fehlen einem die Worte“. Das werde die Entfremdung zwischen echten Fans und Nationalkickern weiter beschleunigen. „Alle Zeichen sind auf Untergang getrimmt.“
Selbst ein überzeugender EM-Auftakterfolg der Nationalmannschaft würde nur kurzfristig noch einmal das Wasser aus dem Schiff pumpen, glaubt er. „Dann kehren die Schönwetter-Fans vielleicht zurück“, glaubt Lange, „aber am Verhältnis zu den echten Fans würde das nur wenig ändern.“ Und auch Fassnacht ist überzeugt. „Einen Hype werden wir bei diesem Turnier nicht erleben.“
Dem Spiel die Ehrlichkeit zurück geben
Und langfristig? Man müsse dem Spiel seine Ehrlichkeit zurückgeben, glaubt Lange, aus dem Fußball wieder eine Projektionsfläche für Gefühle machen. Und dabei vielleicht sogar auf den Einsatz von immer mehr High-Tech verzichten. Selbst den Video-Beweis sieht der Fansporscher zwiespältig. Ja, er sorgt für mehr Gerechtigkeit aber auch für weniger Emotionen. „Wenn man Angst hat, nach einem Tor spontan zu Jubeln, dann ist das das Ende einer Sportart.“