Ruhrgebiet. Nach sechs Monaten wechselnder Aushilfen gilt für die Schüler in NRW wieder der „tägliche Präsenzunterricht“. Zu Normalität fehlt noch manches.

Annette Tillmanns eilt über den Schulflur, sie muss jetzt zur 6c, kurz etwas klären. Unterwegs steht eine junge Schülerin vielleicht etwas ziellos auf der Treppe. „Bei wem hast du gerade?“, fragt die Schulleiterin. „Bei Frau . . .“, stockt das Kind, „bei Frau . . .“ Hat noch jemand Fragen zu einem halben Jahr ohne normalen Schulbetrieb?

Am Montag hat sich das geändert, kehrt Nordrhein-Westfalen mit der Ausnahme von Hagen und Remscheid in den „täglichen Präsenzunterricht“ zurück. Man kann aber auch einfach Normalität sagen, wenn man über maskierte Gesichter, Abstandsgebot auf dem Schulhof und Corona-Tests statt erster Stunde hinwegsieht. Oder darüber, das eine Klasse wie die 6c mit 27 Schülern und einem Lehrer in einem Klassenraum - völlig normal bis März 2020 - im Frühjahr 2021 total eingeengt aussieht und zusammengequetscht.

Schulleiterin: „Ich bin heilfroh, dass sie wieder da sind“

Auf Schulhöfen gelten die Abstandsregeln weiter, wie hier an der Dortmunder Petri-Grundschule.
Auf Schulhöfen gelten die Abstandsregeln weiter, wie hier an der Dortmunder Petri-Grundschule. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Alle Schüler, alle Lehrer wieder da am Phoenix-Gymnasium in Dortmund. Die Rückkehr der 1050. Stimmengewirr, Treppengetrappel, Klänge aus dem Musikunterricht; das fröhliche Schnattern der jungen Menschen klingt aus den geöffneten Fenstern tief ins Herz von Hörde hinein. Und guckt man zur ersten großen Pause aus dem großen Gebäude hinunter auf den Schulhof: Wimmelbild.

„Es fühlt sich sehr ungewohnt an, aber ich bin heilfroh, dass sie wieder da sind“, sagt Annette Tillmans. Es sei jetzt die Aufgabe der Schule, die Kinder und Jugendlichen in die Normalität zurückzuführen: „Die sind im letzten Schuljahr schon sehr gebeutelt worden, und das war nichts im Vergleich zu diesem.“

Wer 2019 eingeschult wurde, hat noch kein normales Schuljahr erlebt

Vorgezogene und verlängerte Ferien, eingeschränkte Schulpflicht, Präsenz-, Distanz- und Wechselunterricht - und Wechsel zwischen diesen Formen. Man muss sich das einmal ganz klar machen: Wer 2019 eingeschult wurde, hat noch kein normales Schuljahr erlebt. Zwei Jahre her.

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Auf dem Schulhof stehen ein paar Mädchen beisammen. Was sagt denn ihr? „Ich freue mich, dass ich alle meine Freundinnen wiedersehe“, sagt Rosalie (16). Tamara (15) meint: „Das ist sehr komisch, zuhause trifft man ein, zwei Leute, und wenn man dann in die Schule kommt, sind so viele Menschen da.“

Bei Lehrern geht die Meinung über die Normalisierung auseinander

Natürlich klappt das nicht immer mit den Abständen bei der Rückkehr der 1050. Klatschen Jungs einander ab, stupsen sich freundschaftlich, da hinten umarmen sich zwei. Ja, und? „Man darf nicht vergessen, das sind Kinder, die haben sich sechs Monate nicht gesehen, die freuen sich und verhalten sich entsprechend“, sagt die Chefin: „Im Gesamtpaket gehen sie unheimlich verantwortungsbewusst damit um.“

Bei den Lehrern überall im Ruhrgebiet gehen die Meinungen über die Normalisierung weit auseinander, wie auch nicht; aber manchmal wirkt es, als gebe es zwei Planeten Schule. Da argumentiert eine Lehrerin in Mülheim, mit den halben Klassen im Distanzunterricht hätte man „die Kinder besser fördern können“ - und in derselben Stadt sagt ein Kollege genau das Gegenteil: Mit dem gemeinsamen Präsenzunterricht könnten „Lernrückstände besser aufgeholt werden“. Tja. Da bleibt nur die Binsenweisheit: Die Wahrheit liegt immer im Auge des Betrachters.

„Ein bisschen eingeengt“, aber auch „ein schönes Gefühl“

Große Pause ist jetzt auch wieder jeden Tag.
Große Pause ist jetzt auch wieder jeden Tag. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Harald Karutz jedenfalls, der in Mülheim das psychosoziale Krisenmanagement leitet, betrachtet den Montag für die Kinder „wie eine zweite Einschulung“. Viele seien „gereizt, verängstigt, beunruhigt, sie haben das Lernen verlernt“. Die Politik beachte sie viel zu wenig: „Noch immer werden sie vor allem als Schüler gesehen und nicht als Individuen mit spezifischen Bedürfnissen.“

Auch Paula steht mit Freundinnen zusammen auf dem Schulhof des Phoenix-Gymnasiums. „Ich habe schon ein bisschen Angst, dass es in zwei Wochen wieder vorbei ist“, sagt die 16-Jährige. Sie empfindet die Wieder-Einschulung als „alte neue Situation“, fühle sich einerseits „ein bisschen eingeengt“, aber zugleich sei es „ein schönes Gefühl, wieder unter mehr Menschen zu sein“. Die maskierten Mädchen im Halbrund nicken dabei.

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„Lernen ist nicht nur das Abarbeiten von Aufgaben“, sagt Annette Tillmanns dazu. „Lernen ist auch das Miteinander. Sie brauchen den Austausch.“ Das fröhliche Schnattern der 1050 rührt an das Herz von Hörde.