Ruhrgebiet. NRW subventioniert nun Laden-Mieten, damit Leerstand verschwindet. Die Ansichten sind strittig, doch in einer Stadt hat es schon funktioniert.
Mülheim, ich komm’ aus dir: Wer seinen Lokalpatriotismus vor sich hertragen will, der ist bei Jörn Gedig richtig. Ruhrpott-Masken gibt’s in seinem Geschäft, Mülheim-Tassen, 38-prozentiges „Schachtwasser“, solche Sachen halt. Doch den Betrieb hätte es mutmaßlich außerhalb des Internets nie gegeben, hätte die Stadt Mülheim Gedig nicht zuvor die Chance eingeräumt, seine Geschäftsidee drei Monate mietfrei auszuprobieren.
„Das hat mir sehr geholfen, ich wäre das Risiko sonst nicht eingegangen“, sagt Gedig (49) heute. Das städtische Experiment, das in Mülheim „Einzelhandelslabor“ heißt, wird jetzt in ähnlicher Form in ganz NRW aufgelegt: als „Sofortprogramm Innenstadt“. Noch bis April 2021 schüttet das Land dazu 70 Millionen Euro aus, die ersten Bewilligungen sind gerade unterwegs. Nicht nur, aber vor allem: für subventionierten Einzelhandel.
Man bringt die Leerstände mit Leuten zusammen, die Ideen für sie haben
Die Idee liegt erst mal nah: Man bringt die Leerstädte in den Zentren mit Leuten zusammen, die Ideen für sie haben. Aber Leute mit Ideen haben nicht immer auch Geld, darum wird ihre Miete für längstens zwei Jahre vom Land subventioniert. Danach strecken sich gerade viele Revierstädte wie Bochum und Duisburg, wie Bottrop und Kamen, wie Mülheim und Neukirchen-Vluyn.
Ein Rechenbeispiel: Ein Vermieter hat regulär 1000 Euro Kaltmiete bekommen, jetzt steht das Ladenlokal leer. Die Stadt kann ihm bis zu 700 Euro Miete anbieten und das Geschäft für mindestens 200 Euro weitervermieten. Vom 500-Euro-Verlustgeschäft pro Monat trägt das Land 450 Euro. Die Hoffnung ist natürlich, dass das Geschäft sich irgendwann selbst trägt. Wobei, Geschäft: Gastronomie ist ebenso möglich, Kinderbetreuung, Reparaturcafé – eigentlich alles, was Laufkundschaft mit sich bringt.
„Es wird Zahnlücken in den Fußgängerzonen geben“
Dass die Leerstände um sich greifen, bestreitet niemand. Onlinehandel und Corona bringen Inhaber dazu, aufzugeben. 23 Leerstände zählt Bottrop akut in der Innenstadt, Douglas und Christ gehen im Januar. 14 zählt Duisburg, mittendrin und ohne jene in den Einkaufszentren; vier das kleine Neukirchen-Vluyn. Der stationäre Einzelhandel „fährt vor die Wand“, so ein Verband der Immobilienwirtschaft: „Es wird Zahnlücken in den Fußgängerzonen geben.“ Gibt es schon.
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Und das Sofortprogramm ist die Prothese? Kann das funktionieren? „Keine Teilnahme wäre auf jeden Fall die schlechtere Alternative“, sagt Ralf Köpke, der parteilose Bürgermeister von Neukirchen-Vluyn. Natürlich freuen sich die Städte, wenn ihnen jemand bezahlt, dass mehr Leben in der Stadt ist; Bottrops Oberbürgermeister Bernd Tischler (SPD) etwa glaubt, sieben bis acht von 23 Ladenlokalen mit den Subventionen bespielen zu können. Aber nach zwei Jahren, wenn das Programm ausläuft?
Das Einzelhandelslabor soll neu aufgelegt werden
Jörg Lehnerdt von der renommierten Handelsberatung BBE ist da zwiegespalten. „Kurzfristig kann man so den Notstand kaschieren“, sagt er: Begünstigte Mieten seien Rückenwind, „neuen, nach einer Anlaufphase marktfähigen Formaten den Start zu erleichtern“. Es dürften „relativ wenige und kleine Nutzer bleiben“. Die Innenstädte müssten sich generell verändern „weg von Fußgängerzonen“ und „immer gleichen Filialisten“ hin zu mehr Nutzungsvielfalt, also Gastronomie, Kultur und Wohnen. „Dafür jetzt schon den Weg zu bereiten, kann kein Fehler sein.“
Den Versuch ist es also wohl wert. Doch noch mal zurück nach Mülheim. Dort hat die Stadtverwaltung gerade ein großes Erneuerungsprogramm für die Innenstadt drastisch verkleinert, weil das Geld fehlt. Das „Einzelhandelslabor“ jedoch, wo neue Konzepte sich subventioniert ausprobieren konnten, das soll neu aufgelegt werden.
In Mülheim konnten sich zwei von drei Geschäftsideen halten
Denn aus der ersten Runde ging nicht nur Jörn Gedigs Geschäft dauerhaft hervor, sondern auch Julian Schicks „Good Life“, ein Geschäft für Wohnaccessoires. Bei allen Einschränkungen in diesem sehr speziellen Jahr sagt Schick heute: „Ich bin hier glücklich.“ Das Konzept, Mieten zunächst zu subventionieren, sei „,mehr als sinnvoll“.
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Unterm Strich bedeutet das: Zwei von drei ausprobierten Geschäftsideen konnten sich halten. Der Planungsdezernent der Stadt bekundete schon vor Monaten, er sei „schwer überrascht von diesem Erfolg“ und freue sich riesig. Also hinüber zu Jörn Gedig: Darauf ein Schachtwasser!