Witten. In die richtige Schule können viele Kinder nicht, in die Corona-Schule schon: Seit Beginn der Pandemie geben Studierende bundesweit Nachhilfe.

In der Schule hätte Anja vielleicht den Lehrer gefragt. Aber in der Schule ist die Zwölfjährige ewig nicht gewesen, und beim Distanzunterricht sieht der Lehrer nicht ihr Gesicht: zur Flächenberechnung lauter Fragezeichen. Doch für Mathe hat Anja Ole: Der Student aus Witten ist einer von Tausenden in Deutschland, die Schülern in der Pandemie Nachhilfe geben. Die kostenlose Corona-School war eine Idee aus dem ersten Lockdown – und sie wird nach allen weiteren Bremsen bleiben.

Das Ar, findet Anja, „ist voll der Außenseiter“. Der Hektar auch, die haben ja beide keine Zwei oben, bei den anderen Flächeneinheiten steht doch überall ein Quadrat im Namen? Das soll einer verstehen, Anja jedenfalls nicht. Vor der Videokamera und allen anderen hat sie sich wieder nicht getraut zu fragen, das ist ja soviel schwieriger als im Klassenzimmer, aber freitags um halb fünf kommt Ole Kistenmacher in ihr Kinderzimmer: „Den kann ich fragen, der erklärt mir das gut.“

Nachhilfe begann gleich im ersten Lockdown

Ole und Anja (als „Kitty Cat“) in ihrer Mathestunde.
Ole und Anja (als „Kitty Cat“) in ihrer Mathestunde. © Screenshot | Annika Fischer

Auch Ole ist nur ein virtueller Besuch, der 20-Jährige sitzt in Witten vor seinem Computer, Anja in München an Papas Laptop. Hier sind sie zu zweit im weltweiten Raum, „das ist viel besser zum Wiederholen“. Anja sagt, sie sei „kein großes Mathegenie“, das war Ole auch nicht, aber den Stoff aus Klasse 6 kriegt er noch hin. Überhaupt hat er „ein Sammelsurium“ aus Fächern angegeben, in denen er helfen kann, Geisteswissenschaften und Deutsch auch, aber das nur bis Klasse acht: „Der Oberstufenkram muss nicht noch mal sein.“

Ole Kistenmacher ist kein Lehrer, er will auch keiner werden. Der gebürtige Kieler studiert an der Universität Witten/Herdecke Management im vierten Semester. Im April 2020 haben sie ihn gefragt, ob er nicht mitmachen will bei der Corona-School, da war die gerade ein paar Wochen alt. Die Schulen hatten dicht gemacht, die Kinder saßen zuhause, viele Lehrer wussten noch gar nicht, wie Homeschooling gehen könnte – da fingen ein paar Studierende in Bonn einfach an. Ole hatte gerade ein Buch gelesen über Bildungs-Ungleichheit, er ahnte, dass Corona „die Probleme noch deutlich sichtbarer machen würde“. Er wollte etwas tun, wirbt auch weitere Kommilitonen an – hat aber auch Verständnis, dass viele die Zeit gar nicht haben, weil sie ihr Studium über bezahlte Jobs finanzieren müssen.

Mathe und Englisch sind die gefragtesten Fächer

Die Corona-School richtete eine Plattform mit dem Hashtag „WissenstattVirenaustauschen“ ein, und schnell meldeten sich Tausende Kinder aus dem ganzen Land. Inzwischen sind 21.000 Schüler und 14.000 Studenten in Lern-Duos zusammengekommen, ein Zehntel von beiden allein in NRW. Zwar bieten einige Studierende mehrere Stunden an, trotzdem gibt es inzwischen Wartezeiten. Im Angebot sind alle Fächer, die jemand sich denken könnte, am meisten nachgefragt sind Englisch – und Mathe. Ole hat jetzt in Power Point eine Kette aufgeschrieben, von Quadratmillimetern bis -kilometern und mit Hundertern in beide Richtungen.

Anja zieht Nullen ab, fügt Nullen hinzu, aber „was, wenn keine Nullen mehr da sind“? Dann muss man die Rechnung mit dem Komma machen, 10 mm² sind also 0,1 cm² – aus München klingt ein Freudenschrei! „Das ist der ganze Spaß“, sagt Ole trocken, aber darüber dürfte noch zu reden sein: „Braucht man das irgendwann später eigentlich?“, will Anja wissen. Und wieso gibt es eigentlich nicht nur eine Einheit? „Eine SIM-Karte“, überlegt Ole, „würde man nicht in Quadratmetern angeben.“ Zudem hat er festgestellt: „Große Zahlen klingen cooler.“

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Corona-School bleibt auch nach der Pandemie

Das gilt auch für die Corona-School, die nicht nur in der Fläche wächst und wächst. Schon jetzt ist klar: Selbst wenn der Distanzunterricht irgendwann aufhört, wird es die Online-Nachhilfe weiter geben. Dann nicht mehr für alle, die gerade nicht live die Schulbank drücken können. Eher für die, wie Kistenmacher sagt, „die kommerzielle Nachhilfe nicht in Anspruch nehmen können“. Den Bedarf, das ist dem Studentenverein schnell klar geworden, „gibt es auch über Corona hinaus“. Ein neuer Name ohne das C-Wort ist bereits gefunden, aber noch geheim.

Anja und Ole jedenfalls sind zusammengewachsen in diesem Jahr, indem sie nicht nur gemeinsam rechnen. Sie verstünden sich gut, sagt Ole wie ein großer Bruder, dabei haben sie sich persönlich noch nie gesehen. Und nicht nur einmal ist der Student aus Witten für die Schülerin aus München schon die Rettung gewesen: Videostunden mit der ganzen Klasse seien nämlich „viel schwieriger““, sagt Anja, „meistens verstehe ich das alles nicht“. Ole aber erklärt. Neulich in den Ferien, erzählt die Zwölfjährige, hat sie sogar von ihm geträumt.

>>INFO: SO KOMMEN SCHÜLER UND STUDENTEN ZUSAMMEN

Die Corona-School sucht Studierende, die Nachhilfe geben wollen, und bringt sie mit Schülern, die Bedarf haben, zusammen: www.corona-school.de. Jeder, der mitmachen will, durchläuft zunächst ein Screening durch den Verein, danach gibt es die Möglichkeit zum Kennenlernen. Angeboten werden Hausaufgabenhilfe, Nachhilfe und verschiedene Workshops.

Mit dabei sind mehr als 14.000 Studierende deutschlandweit, im Ruhrgebiet neben Witten/Herdecke auch aus Bochum und Dortmund. Die Zahl der teilnehmenden Schüler hat inzwischen die 20.000 überschritten.