Ruhrgebiet. Mit schon 1,3 Millionen Euro half die Initiative „Wir im Revier“ Menschen, die durch Corona in Schwierigkeiten geraten sind. Doch die Not wächst.

Ein Jahr schon unterstützt die Hilfsinitiative „Wir im Revier“ Menschen, die Corona in finanzielle Nöte gestürzt hat. Mehr als eine Million Euro floss inzwischen an bald 1400 Betroffene, 350 Familien bekamen Computer für ihre Schulkinder. Zum Jahreswechsel haben Stiftungen und Unternehmen aus dem Ruhrgebiet ihre Spendensumme noch einmal verdoppelt. Doch die Krise hört und hört nicht auf, immer mehr Anträge zeigen: Die Not wächst.

Für Maria Jacobi aus Bottrop war das Geld „ein Segen“. Seit November ist die 31-Jährige in Kurzarbeit, fast 550 Euro Lohn fehlen jeden Monat in ihrem Portemonnaie. Das Weihnachtsgeld ist auch ausgefallen, und was nicht mehr kommen kann, ist das Trinkgeld: „Das tut am meisten weh.“ Service-Kräfte in der Gastronomie wie Maria Jacobi rechnen mit diesem Extra-Taler zufriedener Gäste. Nur gibt es keine Gäste mehr, ein halbes Jahr nun schon wieder, der Lockdown dauert „immer länger und länger“. Aber dann kam die Zusage von „Wir im Revier“, es war zwei Tage nach dem Tod der Mutter: „Ein Wink des Schicksals“, sagt Maria Jacobi: Sie konnte mit den 1000 Euro ihren Anteil der Beerdigungskosten bezahlen.

Mit finanzieller Hilfe werden inzwischen tiefe Löcher gestopft

Auch Hans-Walter Matzmoor aus Gelsenkirchen wurde schon im Herbst nach der Schließung seines Kiosks in einer Jugendeinrichtung von „Wir im Revier“ mit einer kleinen Geldsumme unterstützt.
Auch Hans-Walter Matzmoor aus Gelsenkirchen wurde schon im Herbst nach der Schließung seines Kiosks in einer Jugendeinrichtung von „Wir im Revier“ mit einer kleinen Geldsumme unterstützt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Es ist ja nicht so, dass irgendjemand mit der Hilfe große Sprünge machen könnte. Nach mehr als einem Jahr Corona werden mit dem Geld von „Wir im Revier“ – einst als schnelle Nachbarschaftshilfe von Ruhrgebietsbürgern für Ruhrgebietsbürgern gedacht – maximal Löcher gestopft, Mietrückstände bezahlt, Schulden beglichen. Die Mittel aus dem Spendentopf, das muss man so sagen, füllen Kühlschränke und machen, dass ihre Empfänger mal wieder ruhig schlafen können. So schreiben sie es in ihren Briefen voller Dankbarkeit: „Ich sitze hier und weine vor Freude“ oder: „Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mir das in der jetzigen Zeit hilft und wie riesig der Stein war, der mir vom Herzen gefallen ist.“

Dabei sei es „nicht nur das Materielle“, sagt in Essen Hanny Jacoby, die in ihrer Malschule seit Monaten keine Kurse geben, keine Bilder zeigen und also kein Geld einnehmen kann: „Es ist ein Gefühl der Anerkennung, der Wertschätzung.“ Die 60-Jährige wurde „Wir im Revier“ von einer Freundin vorgeschlagen, als sie schon alles in Frage stellte, ihren Lebenstraum zerbrechen sah. „Das hat mich wieder aufgebaut“, auch wenn das Geld gerade reichte, um etwas Miete nachzuzahlen.

Sozialarbeiterinnen leiden mit: „Es fehlt total viel Geld“

Die Sozialarbeiterinnen bei Caritas und Diakonie, die für die Hilfsaktion immer mehr Anträge Verzweifelter prüfen, erleben jeden Tag, wie Corona stets tiefere Löcher reißt. Sehen, dass Ersparnisse aufgebraucht sind, wie Konten ins Minus rutschen, wie Menschen vergeblich Jobs suchen, um bisherige Alleinverdiener zu unterstützen, um aufzustocken, um überhaupt zu überleben. In den Unterlagen, die sie einreichen müssen, stapeln sich abgelehnte Bewerbungen. „Der Druck steigt“, sagt Tanja Schymik von der Diakonie, „es fehlt total viel Geld.“

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Zunehmend kommen Hilferufe von Mitarbeitern des Düsseldorfer Flughafens: Sicherheitskontrolle, Gepäckdienste, Catering – viele sind seit März 2020 in Kurzarbeit, ein Ende ist nicht in Sicht. Da gehen schon monatelang nicht einmal mehr 1000 Euro Gehalt, Schichtzulagen fallen sowieso weg: Es werden, weiß Schymik, „eigentlich gut situierte Familienväter zu hilfsbedürftigen Bittstellern“. Kollegin Evelyn Dressler aus Dortmund bestätigt das: „Sie haben bis hierher durchgehalten, aber jetzt wissen sie nicht mehr wie.“

Existenzen vernichtet, Kurzarbeit verlängert

Für Menschen wie sie hatten die WAZ und die Wirtschaftsförderung des Ruhrgebiets „Wir im Revier“ im April vor einem Jahr erfunden: die Corona in die Kurzarbeit zwingt, die ihren Nebenjob verlieren oder überhaupt jedes Einkommen. Niemand konnte damals ahnen, dass mehr als eine Soforthilfe nötig sein würde – und nun sind Kellner, Künstler, Bierverkäufer im Stadion, Hostessen auf Messen, Fußball-Trainer, Yogalehrer… immer noch arbeitslos. Studenten, ausländische zumal, leihen sich gegenseitig den letzten Cent, Selbstständige sehen ihre Existenz ruiniert, Inhaber kleinerer Läden, sagt Tanja Schymik, „laufen jetzt langsam auf Grund“.

Wohlfahrtsverbände sehen: Den Menschen fehlt zunehmend die Kraft

Tanja Schymik vom Diakoniewerk Essen.
Tanja Schymik vom Diakoniewerk Essen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Mancher aber scheut den Weg zum Jobcenter, „um dem Staat nicht zur Last zu fallen“, sucht 450-Euro-Jobs, die es in der Krise nicht mehr gibt. Wer schon Sozialleistungen bezieht, kann das Geld nicht aufbringen, für die Kinder Computer zu kaufen, damit sie dem Distanzunterricht folgen können. Die Sozialarbeiterinnen beobachten, dass die Menschen müde werden, dass ihnen die Ideen ausgehen, wie sie sich über Wasser halten können. „Viele sind am Ende“, sagen sie, warteten kraftlos auf eine Perspektive, fielen in ein Motivationsloch: „In absehbarer Zeit ist ja keine Rettung in Sicht.“ Jana Mintrop bei der Caritas in Essen hat schon viel Leid gesehen, jetzt blickt sie auf die Konto-Auszüge und sagt: „Ich wüsste auch nicht mehr weiter.“

Wer 1000 Euro bekommt oder auch weniger in dieser Lage, kann damit nur das Nötigste bezahlen und ist doch voller Glück. Viele aber reden nicht darüber, die Scham wiegt schwer und manchmal auch die Angst vor Neid. „Eigentlich“, sagt Tanja Schymik, die allein in dieser Woche wieder mehr als 30 Anträge bearbeitet hat, „müsste die Aktion weiterlaufen. Weil die Not jetzt noch größer ist.“

>>INFO: DAS IST DIE HILFSINITIATIVE „WIR IM REVIER“

Im April 2020, im ersten Corona-Lockdown, haben Stiftungen und Unternehmen aus dem Ruhrgebiet erstmals in den Spendentopf von Wir im Revier eingezahlt. Zum Jahreswechsel haben sie die Mittel noch einmal großzügig aufgestockt: Mit eineinhalb Millionen Euro können Menschen im Ruhrgebiet unterstützt werden, die durch die Pandemie in Not geraten – oder es inzwischen seit mehr als einem Jahr sind.

Noch immer ist ja kein Ende für Lockdown und Wirtschaftskrise abzusehen. Niemand weiß sicher, wann in der Gastronomie wieder Kellner, am Flughafen Gepäckträger, auf Messen Hostessen und in Stadien Bierverkäufer gebraucht werden. Wann Musiker wieder musizieren, wann Dozenten wieder dozieren können, wann die Kurzarbeit endlich aufhört.

Die Hilfsinitiative Wir im Revier wurde von der Funke Medien NRW gemeinsam mit der Business Metropole Ruhr ins Leben gerufen, unterstützt wird die Aktion von den Sozialverbänden Diakonie und Caritas. Geldgeber sind die RAG-Stiftung, Vivawest, die Brost-Stiftung, die Stiftung Mercator, Vonovia. In Kooperation mit der Firma Medion gibt es neben finanzieller Unterstützung Gutscheine für eine digitale Ausstattung für Familien, deren Kinder sonst nicht am Distanz-Unterricht teilnehmen können. Solche Gutscheine können auch an Empfänger vergeben werden, die bereits Sozialleistungen beziehen.

www.wir-im-revier.de