Bochum. Politik in der Pandemie ist ein schwerer Job. Wissenschaftler der Ruhr-Uni untersuchen Zielkonflikte und entwickeln ein Modell, sie zu lösen.
Lockdown oder Lockerung? Existenzen ruinieren oder Leben gefährden? In der Corona-Pandemie steht die Politik vor sehr schwierigen Fragen, und die Menschen vertrauen immer weniger darauf, dass sie sie beantworten kann – wie eine aktuelle Umfrage in NRW nahelegt, der zufolge nur noch ein Drittel der Bürger mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden sind. Eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern der Ruhr-Universität Bochum entwickelt „Entscheidungshilfen“. Die Deutsche Forschungsgesellschaft fördert das auf drei angelegte Projekt mit einer Million Euro.
„Dass in der Pandemie Dinge anders geregelt werden müssen als bislang, dass völlig neu organisiert und geplant werden muss, ist noch nicht angekommen“, erklärt Prof. Klaus Steigleder, der Ethiker im Forscher-Team. „Zu hoffen, man kann das aussitzen oder mit Placebos agieren, funktioniert leider nicht. Die Infektionszahlen gehen nicht von allein zurück“, ergänzt Prof. Michael Roos, Ökonom. Zusammen mit seiner Kollegin Dr. Paola D’Orazio, dem Sozialpsychologen Prof. Wilhelm Hofmann sowie dem Virologen Prof. Eike Steinmann wollen sie die komplexen Zusammenhänge in Pandemiesituationen in einem Modell abbilden und die Folgen alternativer Politikszenarien analysieren; Politikern damit ein Instrument an die Hand geben, das sie bei der Bewältigung von Pandemien leiten könnte.
Der Ethiker: „Fehler sind normal, aber man würde sich eine Lernkurve erhoffen...“
Dürfen denn in einer so außergewöhnlichen Situation nicht auch Fehler gemacht werden? „Natürlich, das ist völlig normal“, meint Klaus Steigleder. „Aber man würde sich doch eine gewisse Lernkurve erhoffen...“. „Vorhersehbare Fehler, die mehrmals wiederholt werden, werden nicht verziehen“, sagt Roos und verweist auf das Irren und Wirren erst ums Weihnachtsfest, dann zu Ostern, versprochene Lockerungen, die erst zurückgenommen und dann wieder möglich gemacht wurden. Gerechtigkeit und Fairness seien die wichtigsten Parameter in der Pandemie bestätigt Hofmann, der Psychologe. „Man sieht derzeit, dass das Bedürfnis nach möglichst fairen und gerechten Lösungen, bei denen jeder seinen Beitrag leistet, die Menschen umtreibt. Wir müssen die Einsicht in den Vordergrund rücken, dass diese Krise nur zu bewältigen ist, wenn wir alle an einem Strang ziehen.“ Neuseeland ist für ihn das „Paradebeispiel“, das Land habe es verstanden, in der Corona-Pandemie den sozialen Zusammenhalt sogar noch zu stärken.
Das Computersimulationsmodell des Forscherteams soll die virologischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen sowie die Wirksamkeit verschiedener politischer Interventionen zur Bekämpfung von Epidemien analysieren; insbesondere „die Frage klären, wie die Regierung die Effektivität der Interventionen durch geeignete Kommunikationsstrategien erhöhen kann“, erklärt Michael Roos. Das Modell wird mit Daten aus dem Ruhrgebiet überprüft. Als Ballungsraum sei das Revier „ein gefundenes Fressen für Viren“, zudem habe habe man hier verschiedene soziale Milieus und eine dichte Konzentration verschiedener Produktionsstätten direkt vor der Haustür.
Aus psychologischer Sicht die spannendste Frage: „Warum machen die Menschen mit?“
Aus psychologischer Sicht, so Hofmann, sei die spannendste Frage: „Warum machen die Menschen mit, warum tragen sie Masken, halten Abstand, befolgen freiwillig die Anordnungen?“ Sie tun es nur, ahnt er, wenn sie 1. wissen, was überhaupt zu tun ist; 2; erkennen, dass es wichtig ist; 3. die Maßnahmen als gerecht wahr nehmen und wenn 4. sich auch die anderen Menschen in ihrer Umgebung dran halten, sie Lob und Anerkennung für ihren Einsatz oder Verzicht erleben.
Leitlinie der Corona-Politik sei bislang ein „sehr eng verstandener Lebensschutz“, meint Steigleder. „Wir beachten etwa zu wenig, dass der Lockdown auch Lebensentwürfe zerstört oder Kindern Bildungschancen nimmt.“ Für Ethiker sei es „nicht einfach, aber wichtig“, solche Zielkonflikte vor ihrem komplexen Hintergrund gegen einander abzuwägen. Es gelte „Kriterien für eine fundierte moralische Bewertung verschiedener Politikoptionen zu entwickeln“. Dieselbe Politik, verdeutlicht Michael Roos die Problemlage, könne ja für unterschiedliche Menschen ganz andere Folgen haben: Werden Schulen geschlossen, schützt das die Gesundheit der Kinder, erschwert ihnen aber das Lernen. Wenn die Eltern letzteres auffangen könnten, profitierten deren Kinder von der Maßnahme – während sie für andere vorwiegend schädlich sei.
Der Wirtschaftswissenschaftler: „Die nächste Pandemie kommt bestimmt“
Ob das Modell in der aktuellen Corona-Pandemie tatsächlich noch helfen kann, „hängt davon ab, wie lange die noch andauert“, sagt Roos. Tatsächlich wäre das aber gar nicht sein Anspruch. Die Frage sei zudem, ob man jetzt, da soviel Vertrauen in Führungspersönlichkeiten bereits verloren gegangen sei, das Ruder überhaupt noch herum reißen könne. „Man kann ja nicht ungeschehen machen, was im letzten Jahr war...“. Der Fokus des Projekts sei auf die Zukunft gerichtet. „Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Wünschenswert wäre, wenn wir aus der aktuellen dafür etwas lernen.“
In verschiedenen Konstellationen haben die Forscher bereits früher zusammen gearbeitet, „nur der Kollege aus der Virologie war noch nie dabei“, sagt Roos – und sie alle finden das immer wieder spannend. Große Probleme wie der Klimawandel, betonen sie, könnten nur interdisziplinär gelöst werden. Gerade, was dieses Thema angehe, „müssen wir zudem wie in der aktuellen Krise vermitteln: Es kommt auf jeden einzelnen an, auch im Kleinen kann man etwas bewirken.“ Ohne „mündige Bürgerinnen und Bürger, die Wissenschaft mitlesen und als gute Quelle verstehen“ ginge das nicht, meint Hofmann: „Das System, wie wir leben und arbeiten, hat lange funktioniert. In der Krise zeigte sich, es funktioniert nicht mehr. Deshalb müssen wir alte Gepflogenheiten und Sichtweisen hinterfragen.“ Um derzeitige und zukünftige Herausforderungen zu meistern, müsse die Gesellschaft resilienter, offener für neue Wege, experimentierfreudiger werden, glaubt der Sozialpsychologe. Und sieht auf dem dahin erste „Lichtblicke“: „Beispiel Homeoffice. Überrascht stellen die Unternehmen plötzlich fest, die Produktivität leidet ja gar nicht.“