Essen. Essener Mediziner warnen vor einem neuartigen, sehr seltenen, aber gefährlichen Syndrom: Pims. Es trifft Kinder nach einer Corona-Infektion.
„Betroffene Kinder“, sagt Prof. Christian Dohna-Schwake, „sind oft richtig krank“ -- angestrengt und sehr konzentriert auf ihre Atmung. „Deren Immunsystem läuft Amok. Die liegen platt im Bett, lassen sich klaglos Blut abnehmen“, erzählt der leitende Oberarzt der Essener Universitätsmedizin, „da schrillen bei jedem Kinderarzt die Alarmglocken.“ Zu Recht. Denn die Patienten, über die der Kinder-Intensivmediziner und -Infektiologe spricht, sind Kinder mit „Pims“ – einem neuartigen, sehr seltenen, aber lebensbedrohlichen Syndrom, das sich als Spätfolge einer (oft unerkannten und völlig symptomfrei verlaufenen) Corona-Infektion entwickelt. Noch vor einem Jahr kannte es niemand. Jetzt taucht es immer häufiger auf.
245 Pims-Fälle wurden dem zentralen deutschen Register in Dresden inzwischen gemeldet, 19 davon vom Essener Universitätsklinikum. Auch in anderen Krankenhäusern im Revier gab es Pims-Fälle, doch nirgendwo in Deutschland wurden bislang mehr Pims-Patienten behandelt als in Essen. Das Ruhrgebiet sei eben Ballungsgebiet, sagt Dohna-Schwake – wohl in der Hoffnung, dass sich die hohe Zahl der hier Erkrankten dadurch erklären lässt. Denn allzu viel weiß man noch nicht über Pims, das „Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome“. Klar ist nur: Es führt zu schweren Entzündungen im ganzen Körper – Folge einer irregeleiteten Reaktion des Immunsystems auf die Covid-19-Infektion.
Im April 2020 tauchten die ersten Fälle in Großbritannien und den USA auf
Im April 2020 tauchte es erstmals bei Kindern in Großbritannien und den USA auf. Dohna-Schwake behandelte seinen ersten kleinen Patienten mit Pims im Mai vergangenen Jahres. Drei weitere folgten in der ersten Welle, der deutlich größere Teil also kam mit der zweiten. Im Moment lägen keine Pims-Patienten auf seiner Intensivstation, sagt Dohna-Schwake. Doch er fürchtet, dass sie erneut kommen werden, jetzt da sich das Land in der dritten Welle der Pandemie befände. In Großbritannien, weiß der Arzt, folgte dem Höhepunkt der zweiten Infektions-Welle im Januar der „Pims-Peak“ im Februar.
Die Betroffenen sind meist im Schulalter. In Essen waren die Patienten zwischen fünf und 17 Jahre alt. Doch es gibt auch Jüngere, die Pims trifft, genau wie ältere „Ausreißer“. Dohna-Schwake hat gerade erst von einem 37-Jährigen mit dem neuen Syndrom gehört. Mit hohem, oft sehr hohem, langanhaltendem Fieber kommen die Patienten. 80 Prozent klagen zudem über heftige Bauchschmerzen, Erbrechen und Durchfall. „So schlimm“, sagt der Essener Kinderarzt, „dass in einigen Fällen wegen einer Blinddarmentzündung operiert wurde – die es aber gar nicht gab.“ Im späteren Krankheitsverlauf folgen Hautausschlag und Bindehautentzündung. Richtig ernst aber wird es, wenn dazu auch der Kreislauf des Kindes versagt. „Der Blutdruck geht in den Keller, es kommt zur Schocksymptomatik“, erklärt Dohna-Schwake.
Die Hälfte der Kinder muss auf der Intensivstation versorgt werden
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Einen Sechsjährigen musste der Arzt im Oktober sogar beatmen, ins künstliche Koma versetzen. „Dabei“, sagt er, „überlegen wir uns jedes Mal sehr gut, ob wir ein Kind auf die Intensivstation legen oder nicht. Für die Eltern ist das eine Katastrophe, aber manchmal geht es nicht anders.“ Um genau zu sein: In der Hälfte der Fälle etwa geht es nicht anders.
Alle 19 Essener Patienten überlebten. „Gottseidank“, seufzt Dohna-Schwake. Doch in den USA seien zwei Prozent der erkrankten Kinder gestorben; die US-Seuchenbehörde meldete erst jüngst „immer aggressivere Verläufe“ – und 33 Tote.
Behandeln, das ist die gute Nachricht, lässt sich Pims gut. Der Sechsjährige aus Essen, musste nachdem er aus dem Koma erwacht und der Klinik entlassen worden war, zwar in einer Reha-Einrichtung erst wieder das Laufen lernen und leidet noch heute unter einer Muskelschwäche im Arm; einige Mädchen klagten über ausbleibende oder unregelmäßige Menstruationsblutungen – „doch in den meisten Fällen heilt Pims folgenlos ab.“ Am Uniklinikum wurde inzwischen eine Ambulanz eingerichtet, um die Betroffenen nach der Entlassung weiter beobachten zu können. „Und natürlich“, ergänzt Dohna-Schwake, „wissen wir noch zu wenig über Langzeitfolgen.“ Dass man sich in Deutschland dazu austausche und Registerarbeit mache, nennt er „einen der guten Nebeneffekte der Pandemie“.
Die Krankheit ist sehr selten und gut behandelbar
Therapiert wird Pims im Übrigen mit Immunglobulinen und hoch dosiertem Kortison. „Nach einem Tag sieht man was, innerhalb von zwei Tagen geht es dem Kind wieder deutlich besser.“ Kann man vorbeugen? „Wäre schön“, sagt der Mediziner. „Doch Erkenntnisse dazu haben wir nicht.“
Weshalb er persönlich—obwohl „selbst Vater von vier Kindern, denen die Decke auf den Kopf fällt“ -- es für richtig hielte, die Schulen („bis auf die Abschlussjahrgänge vielleicht“) doch wieder zu schließen. Nicht weil man wegen Pims in Panik verfallen müsse. Die Krankheit sei „sehr selten und gut behandelbar“. „Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Und die drei Wochen bis nach den Osterferien könnte man nutzen, findet er, um sich „endlich vernünftige Konzepte“ auszudenken, wie zweimal Testen in der Woche an Schulen funktionieren könnte. Mit unüberhörbarem Frust in der Stimme hängt der Infektiologe an: „Das muss doch möglich sein. Wir hier am Klinikum kriegen das doch auch hin.“