Essen. Ethikexperte sieht für alle eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen. Medizinethiker widerspricht: Impfung nur freiwillig

Mediziner beklagen die traditionell große Impfskepsis der Bevölkerung in Deutschland. Nach aktuellen Umfragen würden sich lediglich 67 Prozent der Deutschen gegen Covid-19 impfen lassen, das ist im Vergleich der G-7-Länder der zweitniedrigste Wert hinter Frankreich, ergab kürzlich eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar. Andere Studien deuten auf eine noch geringere Impfbereitschaft hin. Gut zehn Prozent der Deutschen gelten als strikte Impfgegner.

Dennoch betonte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wiederholt, dass es keine Impfpflicht geben werde. Die jüngste Empfehlung des Deutschen Ethikrates stützt diese Position: „Der Ausgangspunkt ist die Selbstbestimmung. Eine allgemeine Impfpflicht ist daher auszuschließen“, sagte die Vorsitzende des Gremiums, Alina Buyx, am Montag.

Doch besteht angesichts der dramatisch steigenden Infektionszahlen und des jüngsten Durchbruchs bei der Impfstoffentwicklung nicht für alle Bürger eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen? Auch da gehen die Meinungen der Medizinethiker auseinander.

"Eine Impfung ist moralisch geboten"

„Aus ethischer Perspektive besteht eine Impfpflicht bei jeder Impfung, die eine Immunität in der Bevölkerung gegen eine Pandemie herstellen soll“, sagt der Düsseldorfer Philosoph und Ethikexperte Prof. Dieter Birnbacher. Die Streitfrage sei allerdings, ob dies zwangsweise durchgesetzt werden sollte. „Es ist eine rechtspolitische Frage, ob man eine Impfung gegen Covid-19 mit der Androhung von Sanktionen erzwingen sollte. Das wurde bisher aus verfassungsrechtlichen Gründen und dem Verweis auf die Selbstbestimmung verneint“, erklärt Birnbacher.

„Eine moralische Verpflichtung besteht aber ganz sicher“, betont der Ethiker. Nur dadurch könnten die Verbreitung des Virus eingedämmt und andere Menschen geschützt werden. „Bei Corona steht aus ethischer Sicht allerdings weniger die Impfpflicht im Fokus als die Frage, wer ein Anrecht darauf hat, zuerst geimpft zu werden. Dazu hat der Ethikrat jetzt Vorschläge gemacht“, so Birnbacher.

Nach der Zulassung eines Impfstoffs sollten demnach zunächst ältere Personen, Menschen mit Vorerkrankungen sowie Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeheimen geimpft werden. Ebenso Mitarbeiter in Gesundheitsämtern, Polizisten, Feuerwehrleute, Lehrer und Erzieher. Diese „Priorisierung“ müsse die Politik festlegen. Birnbacher: „Das Entsetzliche aber ist die Impfunlust in der Bevölkerung. Das halte ich für problematisch und völlig unverantwortlich.“ Fundamentalistische Impfgegner würden die Gesundheit anderer gefährden. Aus moralischer Sicht sei eine Corona-Impfung dringend geboten, betont der Ethikexperte.

"Eine Impfpflicht finde ich falsch"

Ganz anders sieht das der Bochumer Schmerzmediziner und Medizinethiker Prof. Michael Zenz. „Eine Impfpflicht gegen Corona finde ich falsch“, stellt Zenz klar. Gerade in der aktuell aufgeheizten Debatte um die Corona-Maßnahmen – Zenz verweist auf die jüngsten Auseinandersetzungen in Leipzig – sei es nicht angebracht, jetzt eine Impfpflicht ins Spiel zu bringen. „Dazu kommt: Wir werden zunächst nicht genügend Impfdosen für alle bekommen“, so Zenz.

Eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen, sieht er nicht. „Das Gesundheitsrisiko betrifft vor allem ältere Menschen. Jetzt auch alle jüngeren Menschen zu verpflichten, sich impfen zu lassen, halte ich nicht für vertretbar.“ Es müsse der Entscheidung des Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich impfen lassen will oder nicht. Zenz: „Es gibt zudem keine medizinischen Belege dafür, dass eine Impfpflicht helfen kann.“ Das führe nicht unbedingt zu der gewünschten Herdenimmunität. „Wir wissen noch zu wenig über das Virus. Es könnte sein, dass man sich wie bei der Grippe jedes Jahr impfen lassen muss, falls das Virus mutiert.“

Gleichwohl appelliert er an die persönliche Verantwortung jedes Menschen, sich zu schützen. Das bedeute Masken zu tragen, Abstand zu halten und Kontakte zu reduzieren. „Ich würde es älteren Menschen empfehlen, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen genau wie bei der Grippe. Das halte ich für notwendig.“ Auch Personen, die viele Kontakte haben, etwa das Pflegepersonal in Krankenhäusern oder Altenheimen, sollten sich mit einer Impfung schützen. Aber er gibt zu bedenken: „Kann man alle Ärzte und Krankenpfleger zwingen, sich impfen zu lassen? Das halte ich für problematisch.“