Dortmund. 27 Jahre nach dem Mord an einer 16-Jährigen hat das Dortmunder Schwurgericht einen 56-Jährigen zu lebenslanger Haft verurteilt.
Über 27 Jahre liegt die Tat zurück, etwas mehr als zwei Jahre hat der Prozess in zwei Anläufen gedauert. Aber seit Montag ist der Mord an der 16 Jahre alten Schülerin Nicole-Denise Schalla gesühnt. Das Dortmunder Schwurgericht hat keinen Zweifel an der Schuld des 56 Jahre alten Dortmunders Ralf H. und verurteilte ihn wegen heimtückischen Mordes zu lebenslanger Haft. Zwei seiner Hautschuppen überführten ihn.
Bevor Richter Thomas Kelm die Entscheidung seiner Kammer verkündet hatte, ließ sich kaum ein Prozessbeteiligter auf eine Prognose ein. Denn alles hing davon ab, ob das Gericht die Tat als Mord einstufen würde. Falls es nur einen Totschlag festgestellt hätte, dann wäre Ralf H. nicht verurteilt worden, weil Totschlag im Gegensatz zu Mord bereits nach 20 verjährt. Das Verfahren wäre dann eingestellt worden.
Vater der Ermordeten im Saal
Diese Anspannung war Joachim Schalla (69) vor dem Urteil deutlich anzumerken. "Ich vertraue unserer Justiz" sagte er zu den Medienvertretern. Fast jeden Sitzungstag hatte er seit Dezember 2018 mit seiner Frau besucht. Sie hatten mitbekommen, wie Ralf H. durch immer wieder neue Anträge versuchte, die drohende Verurteilung abzuwenden.
Und sie hatten mitbekommen, wie Anfang vergangenen Jahres die Erkrankung einer Richterin den Prozess platzen ließ. Als später auch noch der Vorsitzende Richter vor der Neuauflage des Verfahrens erkrankte, reagierte das Oberlandesgericht Hamm ungehalten und entließ Ralf H. aus der U-Haft, in der er seit zwei Jahren saß.
Kein neuer Haftbefehl
Dass das Dortmunder Gericht trotz der lebenslangen Haft Ralf H. am Montag in Freiheit ließ, empörte Joachim Schalla: "Das geht nicht. So etwas gibt es nur in Deutschland." Das überlagerte kurzzeitig sogar seine Genugtuung, dass der Mörder seines Kindes verurteilt worden war. Aber es war ja nicht die einzige Emotion, der er ausgesetzt war. Seine Ehefrau liegt im Krankenhaus mit einem Herzinfarkt. Besuchen kann er sie wegen Corona nicht. Hofft aber, dass sie in guten Händen ist.
So muss er ihr später erzählen, dass Richter Kelm von einer dünnen Beweislage gesprochen hatte. Am Abend des 14. Oktober 1993 war die Schülerin Nicole Schalla abends von ihrem Freund in Castrop-Rauxel mit dem Bus nach Dortmund zurückgekehrt. Ihr Mörder muss ihr aus dem Bus gefolgt sein und sie nur 30 Meter weiter in ein Gebüsch gezogen haben. Dort zog er sie halb aus, befriedigte sich und erwürgte die Schülerin.
Jahrelange Ermittlungen ohne Erfolg
Am nächsten Morgen war die Leiche gefunden worden. Spuren gab es kaum, weil es die ganze Nacht geregnet hatte und mögliches Beweismaterial abgewaschen worden war. Jahrelang ermittelte die Kripo ohne Erfolg. In Nicoles Freundeskreis, in ihrem gesamten Umfeld wurde geforscht. Die Kripo kontrollierte auch Sexual- und Gewalttäter. Aber alles ergab keinen Treffer.
Bis 2018 die Kriminaltechnik so weit war, eine zur Tatzeit am nackten Unterleib des Leichnams gesicherte Hautschuppe zu analysieren. Sie fand heraus, dass die DNA zu Ralf H. gehörte, der schon viele Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Mehrfach saß er wegen Gewaltdelikten in Haft, hatte auch schon junge Frauen überfallen. Zum Schluss hatte er sogar Sicherungsverwahrung bekommen.
Ralf H. nennt sich unschuldig
Im Sommer 2018 kam er in Untersuchungshaft. Über seine Verteidiger hatte er zum Prozessauftakt im Dezember 2018 jede Täterschaft bestritten. Während der Verhandlung ließ das Gericht noch eine weitere Hautschuppe untersuchen, die am Oberschenkel der jungen Frau gesichert worden war. Das Ergebnis: Auch sie enthielt die DNA von Ralf H. Dennoch erklärte er in der vergangenen Woche in seinem letzten Wort, dass er unschuldig sei.
Richter Kelm begründete kurz und knapp, dass es sich um einen reinen Indizienprozess gehandelt habe. Da seien die beiden Hautschuppen an unbekleideten Stellen im Intimbereich der Schülerin. Hinzu komme, dass Ralf H. damals in Castrop-Rauxel gelebt habe, ihr also sehr gut im Bus von Castrop-Rauxel nach Dortmund gefolgt seien könnte. Und schließlich spielten auch die strafrechtlichen Vorbelastungen des Angeklagten eine Rolle.
Keine besondere Schwere der Schuld
Für die besondere Schwere der Schuld sah das Gericht keine Möglichkeit, immerhin liege der Mord auch schon sehr lange zurück. Angesichts der Beweislage hatte das Gericht sich auch auf keinen genauen Tatablauf festgelegt und zwei Alternativen genannt.
Ralf H. nahm das Urteil ruhig auf. In die Haft musste er nicht. Richter Kelm erinnerte daran, dass der Angeklagte auch nach der Entlassung aus der U-Haft an jedem Sitzungstag gekommen sei: "Auch heute zum Urteil." Würde die Kammer ihn wieder in U-Haft nehmen, sei damit zu rechnen, dass das Oberlandesgericht Hamm ihn erneut frei ließe.
Weil Ralf H. Revision gegen das Urteil einlegen wird, dauert es noch mindestens ein halbes Jahr, bis der Bundesgerichtshof entscheiden wird, ob der Dortmunder Richterspruch korrekt ist. Erst wenn die Karlsruher Richter die Entscheidung bestätigen, kann der 56-Jährige zum Antritt seiner Haft geladen werden. "Bis dahin ist der doch tot", sagt Joachim Schalla in der Befürchtung, dass der Angeklagte für den Mord an seiner Tochter doch nicht büßen könnte.