Dortmund. Instagram-Aktivistinnen von „Catcalls of Dortmund“ haben es satt: Sie kreiden sexuelle Belästigung an – wortwörtlich. Wir haben sie begleitet.

Gelbe, grüne und pinke Kreide kratzt über den feuchten Asphalt in der Dortmunder Innenstadt. Ein älterer Herr bleibt neben zwei Studentinnen stehen, die an diesem verregneten Freitagmittag am Boden kauern und bunte Buchstaben auf die Straße ziehen. „Was schreibt ihr denn Schönes?“, fragt er und liest weiter vom nass glänzenden Boden ab: „Er fasste mir in den Schritt...“ Der Mann stockt.

„Wir wollen gegen sexuelle Belästigung vorgehen “, erklärt die kleinere der beiden Frauen, Marie, mit ruhiger Stimme. „Da habt ihr keine Chance“, winkt der Mann ab und geht weiter, „das passiert immer wieder.“ Die beiden Studentinnen schauen sich über den Asphalt hinweg an, auf dem in pastellfarbenen Buchstaben leuchtet: „Er fasste mir in den Schritt -,Stell dich nicht so an, du blamierst mich vor meinen Freunden’“. Dazu die Instagram-Hashtags #ankreiden und #stopptBelästigung.

Belästigung ankreiden: Catcalls of Dortmund wird aktiv

„Da haben wir keine Chance “, wiederholt Marie die Worte des Mannes. Trotz blitzt in ihren blauen Augen über dem rosafarbenen Mund-Nasen-Schutz auf. Denn mit jedem Strich Kreide, den Aktivistinnen der Dortmunder Instagram-Initiative „@catcallsofdortmund“ ziehen, wollen sie das genaue Gegenteil bewirken. – sexuelle Belästigung wortwörtlich ankreiden, im öffentlichen Raum sichtbar machen – und so gesellschaftliches Umdenken anstoßen. Dabei sind die sogenannten „Catcalls“ – sexuell aufgeladene, übergriffige Kommentare – häufig genug präsent, wenn man denn genau hinschauen, beziehungsweise hinhören möchte.

Mehr als nur ein Wortspiel: Sam (links) und Marie von Catcalls of Dortmund wollen mit dem Ankreiden ein gesellschaftliches Umdenken erreichen.
Mehr als nur ein Wortspiel: Sam (links) und Marie von Catcalls of Dortmund wollen mit dem Ankreiden ein gesellschaftliches Umdenken erreichen. © Andreas Buck / FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Doch leider werden diese Art Übergriffe auch häufig genug bagatellisiert, wie Maries Mitstreiterin Sam findet. „Wir wollen sensibilisieren“, sagt die 19-Jährige – roter Zopf, schwarze Brille, Schiebermütze – die Sozialwissenschaften in Dortmund studiert.

„Weil Menschen fragen, ob das wirklich so oft vorkomme oder so schlimm sei.“ Deshalb können Frauen – aber ausdrücklich auch Männer – der Gruppe auf Instagram ihre Erfahrungen schildern. Die aktuell sieben Aktivistinnen kreiden sie dann gekürzt an den entsprechenden Ort in Dortmund an, posten Fotos davon auf Instagram. „ Wir kreiden alles an , außer Vergewaltigung “, erklärt Marie. Denn die gehöre angezeigt.

Nicht lustig: Catcalls sind keine Witze, sondern belästigend

„Hast du Chloroform dabei? Die würd’ ich gern mitnehmen.“ Dieser Spruch wurde zum Auslöser fürs Ankreiden in Dortmund , als Marie im Juli am Hauptbahnhof unterwegs gewesen ist und sich zwei Männer hinter ihr genau so über sie unterhielten.

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„Das klang gar nicht nach einem Witz “, sagt die 22-jährige Studentin. Sie erzählte einer Arbeitskollegin von dem Vorfall, und „innerhalb einer halben Stunde“ war die Idee geboren, einen Ableger der weltweiten Instagram-Aktion „@catcallsof“ auch für die Stadt Dortmund ins Leben zu rufen und sich damit der weltweiten Aktion anzuschließen.

Je stärker der Spruch „Er fasste mir in den Schritt“ an diesem verregneten Mittag auf dem grauen Asphalt Gestalt annimmt, desto öfter bleiben Passanten stehen. Die meisten gucken kurz, gehen dann weiter ihre Wege durch die Einkaufsstraße. „Kreide, Mama, Kreide!“, ruft ein kleiner Junge an der Hand seiner Mutter. „Nein!“, sagt diese und zieht ihn weg.

Unterwegs in Dortmund: Beim Ankreiden „gecatcalled“

Zwar ernten die Studentinnen interessierte Blicke, wirklich ins Gespräch will unter dem grauen Regenhimmel aber scheinbar niemand mit den beiden kommen. Das sei nicht immer so, oft gebe es positives Feedback, wie die beiden sagen. Aber auch Kritik, Unverständnis und derbe Sprüche. „Wir wurden sogar neulich beim Ankreiden selbst gecatcalled“, erzählt Sam.

Vorbeigehen oder stehen bleiben? Catcalls of Dortmund macht Belästigungen im öffentlichen Raum sichtbar.
Vorbeigehen oder stehen bleiben? Catcalls of Dortmund macht Belästigungen im öffentlichen Raum sichtbar. © Andreas Buck / FUNKE Foto Services | Andreas Buck

„Die Höhe“ war bislang eine Gruppe fundamentaler Christen , wie Marie sagt. „Erst haben sie sich positiv geäußert. Dann wollten sie uns erzählen, dass Frauen selbst dafür verantwortlich sind, weil Männer sich biologisch nicht zurückhalten könnten.“

Ein religiös argumentierter Fall von „ Victim Blaming “ – also der Ansicht, Frauen provozierten durch ihr Verhalten oder bestimmte Kleidung Übergriffe und seien somit für diese mitverantwortlich. Diese Beschuldigung der Betroffenen führt zur Täter-Opfer-Umkehrung . „Warum wird den Töchtern gesagt: Passt auf, wo ihr hingeht und was ihr anzieht?“, fragt Marie. „ Warum wird denn nicht den Söhnen gesagt: Fasst niemanden an ?“

Übergriffe: Einschreiten statt ignorieren

Vielen Männern scheine nicht bewusst zu sein, „dass ,geiler Arsch’ kein Kompliment ist“, sagt Sam. „Ich frage mich, ob das was mit geringem Selbstwert zu tun hat“, überlegt Marie. „Dass man sich darüber definiert, Frauen zu besitzen oder zu belästigen.“ Was die beiden besonders schockiert : Oftmals wird das Verhalten einfach abgetan, niemand helfe den Opfern, die auf @catcallsofdortmund ihre Erfahrungen teilen.

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Wozu die beiden Studentinnen nur inständig raten können: einschreiten! „Bei Belästigungen in der Bahn sich etwa dazusetzen und zu tun, als kenne man das Opfer, ist eine sichere Variante“, sagt Marie. Sam musste schon selbst erleben, dass ihr eine Bierflasche hinterhergeworfen wurde – weil sie sich verbal gegen eine Belästigung wehrte. Sie ließ das Erlebnis von der Dortmunder Gruppe ankreiden.

So sollen Betroffene nicht mehr alleine mit ihren Erfahrungen sein. „Wenn sie sich bedanken, da geht mir das Herz auf“, sagt Marie. „Dann denke ich: Wenn wir sonst nichts erreichen, dir konnten wir helfen.“ Etwas Vergleichbares habe es in ihrer Jugend so nicht gegeben. „Ich versuche gerade das Vorbild zu sein, das ich nicht hatte.“

Petition gegen Catcalling

Catcalling ist in Deutschland bislang nicht gesetzlich verboten – sondern befindet sich in einer rechtlichen Grauzone. Denn verbale sexuelle Belästigungen sind im Strafgesetzbuch kein eigener Straftatbestand. Zwar sind sexuelle Übergriffe gesetzlich verboten, es muss aber zu körperlichen Berührungen gekommen sein.

Auch unter den Tatbestand einer verbalen Beleidigung fallen Catcalls aufgrund ihrer Formulierungen oftmals nicht eindeutig. Die 20-jährige Studentin Antonia Quell aus Fulda hat deshalb die Petition „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein“ gestartet, die auch in Deutschland ein Gesetz gegen Catcalling fordert. In Frankreich ist Catcalling bereits strafbar – ebenfalls in Portugal, Belgien und den Niederlanden.

Das Video zum Artikel finden Sie auf: waz.de/ankreiden

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