Borken. Rinder erleiden Qualen auf dem Weg zum Schlachthof. Da wächst die Zahl der Biobauern, die sie beim Weiden erschießen. Es dient auch dem Fleisch.
Den Hof hat Tanja Ketteler nicht geerbt, den hat sie gewollt, die Rinder auch, doch eines „war mir immer zuwider“: Ein verängstigtes Rind von der Herde abzusondern und in einen Transporter zu treiben; eine Szenerie mit Stress und Verletzungsgefahr für alle Beteiligten. Es ist genau das, was 3,2 Millionen schlachtreife Rinder jedes Jahr in Deutschland erleben müssen: Ihr Weg zum Schlachthof ist ein Marterpfad.
Einige wenige Bauern in Deutschland, wie eben Ketteler in Borken im Münsterland, gehen inzwischen einen anderen Weg: den der Weideschlachtung. Sie erschießen das Tier aus dessen heiterem Himmel auf der heimischen Weide, möglichst beim Fressen, möglichst in der freundlichen Gesellschaft anderer Rinder. Das stressfreie Sterben gilt als die beste Tötungsart, das Fleisch soll besser sein – die Kunden stehen jedenfalls Schlange.
Der Schuss muss 24 Stunden vorher der Polizei angekündigt werden
Und so kommt es, dass Hubert Ketteler (72) ein- bis zwei Mal im Monat in der Morgendämmerung aus dem Hof tritt und auf den mobilen Hochsitz klettert, der an einen Frontlader angebaut ist. Seine Tochter Tanja Ketteler (43), die hier die Chefin ist, lockt das Tier mit Heu an eine Stelle, wo der Schusswinkel gut ist und anderen Beteiligten nichts passieren kann.
„Locken geht vor Treiben“, sagt die Bio-Bäuerin. Dass hier gleich ein Schuss fällt, müssen sie spätestens 24 Stunden zuvor der Polizei gemeldet haben – falls dort jemand anruft und absurderweise behauptet, er habe in der ländlichen Gegend einen Schuss gehört. 300 Winchester Magnum. Leise ist anders.
Bio-Betriebe werben ausdrücklich mit dieser Art des Tötens
Der Schuss fällt, das Rind bricht zusammen, „es ist so tot, wie es eben geht“, sagt Hubert Ketteler, ein langjähriger Jäger. Sie schneiden dem Tier die Kehle durch, lassen es ausbluten, laden es auf einen Anhänger, machen die Plane dicht: „Es soll ja niemand einen Schreck kriegen“, sagt die Tochter. Auf der 40 Kilometer langen Strecke zum Bio-Metzger nach Ahaus kommt einem ja schon mal der eine oder andere Wagen entgegen.
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Der bayrische Bauer Ernst Hermann Maier (genannt „Der Rinderflüsterer“) hat sich schon für natürliche Tierhaltung und Weidetötung stark gemacht, da war er noch ein einsamer Spinner. Inzwischen ist sie erlaubt: Bio-Betriebe werben ausdrücklich mit dieser Tötungsart, gerade in diesem Frühjahr hat auch die Schweiz sie erlaubt. „Wir ersparen den Tieren, uns selbst, der Herde und dem Fleisch den Stress.“
„Die tierschutzgerechteste Art der Schlachtung“
Denn der Körper eines Rindes in Todesangst schüttet Stresshormone aus, die dem Fleisch nicht gut tun. Und Stress hat das Tier ohne Ende, steht stundenlang mit fremden Rindern in einem Schlachttransport, ist dann an einem unbekannten Ort mit fremden Menschen. Tierschützer behaupten zudem, es gebe in konventionellen Schlachthöfen eine nennenswerte Zahl von Fehlbetäubungen.
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Klaus Immel, ein inzwischen pensionierter Tierarzt des Kreis-Veterinäramtes Kleve, hat sich lange mit Weideschlachtung befasst. Sein Fazit ist: „Es besteht kein Zweifel daran, das letztendlich der Kugelschuss auf der Weide die tierschutzgerechteste Art der Schlachtung von Tieren ist, die aufgrund ganzjähriger Weidehaltung den menschlichen Kontakt nicht so gewohnt sind.“
„Das Büro war mir dann doch zu einseitig“
Bundesweite Zahlen gibt es dazu nicht, nur diese aus Sachsen-Anhalt: Dort bewegte sich diese Art der Tötung 2017 und 2018 in der Größenordnung von Zehntelprozent, stieg aber 2019 auf drei Prozent.
Tanja Ketteler war eigentlich technische Zeichnerin, aber „das Büro war mit dann doch zu einseitig“. 2002 übernahm sie den konventionellen Milchviehbetrieb ihres alten Onkels und baute ihn über die Jahre zum Bio-Hof um: Die 61 Rinder, davon 22 Mutterkühe, stehen das ganze Jahr auf der Weide – wenn sie nicht in ihrem großräumigen Stall sind.
Hier haben Rinder Namen – und hören sogar auf sie
Marie, Anna, Walter, Aron, Lea – wie die Rinder alle heißen. Sie hören auf ihre Namen, „Kalle!“, und Kalle hebt tatsächlich den Kopf. „Man hat eine ganz andere Beziehung zu den Tieren, wenn sie Namen haben“, sagt Tanja Ketteler; freilich rächt sich das am Ende bei der Weideschlachtung: „Man macht das nicht mal eben so.“ Ihr Vater sagt: „Das Tier fehlt erst mal. Aber wenn der Kopf weg ist, ist es Rindfleisch.“ Je nach Größe des Rindes, wird es zu 20 bis 26 Paketen zu je zehn Kilo Fleisch. Gulasch, Rouladen, Filet, Gehacktes . . . und kostet derzeit 159 Euro. Für Kunden gibt es eine Warteliste.
Trotz seiner Erfahrung als Jäger hat Hubert Ketteler noch eine Zusatzausbildung machen müssen, bevor er auf Rinder anlegen durfte. Er saß da zusammen mit Polizisten, mit Menschen aus Zoos, Tierparks und Zirkussen, mit Wolfsexperten – alles Leuten, die mal in die Situation kommen können, ein Tier erschießen zu müssen. Ein Bauer war nicht darunter – obwohl es für die Rinder auch eine Art Gnadenschuss ist.