Gladbeck. Gladbeck ist bundesweit spitze bei den Neuinfektionen. Doch verbreitet sich das Virus wirklich so stark an den Schulen? Eine Ursachenforschung.

Warum Gladbeck? Würde die Stadt nicht zum Kreis Recklinghausen gehören, stünde sie bei der Sieben-Tage-Inzidenz bundesweit an erster Stelle. Oder an zweiter, wenn man auch Berlin bezirksweise betrachtet. Nur Neukölln liegt drüber. Gladbeck folgt mit 91,3 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Stand Freitag) und hat damit die 50er-Marke, ab der eine Stadt als Risikogebiet gilt, weit hinter sich gelassen. Das Robert-Koch-Institut orientiert sich jedoch an den offiziellen Verwaltungseinheiten, und der Kreis Recklinghausen insgesamt überschreitet gerade erst die Vorwarnstufe von 35. Warum also ragt Gladbeck heraus?

Hier gab es keine Großhochzeiten oder illegalen Clubfeiern, keine größenwahnsinnigen Kleingartenvereine oder Fleischfabriken. „Weder eine Familienfeier noch eine Kulturveranstaltung sind Auslöser oder Multiplikator für die Fälle“, so Peter Breßer-Barnebeck, Kommunikationschef im Rathaus. Das Infektionsgeschehen gehe größtenteils von den Schulen aus, hieß es. Tatsächlich sind Fälle an sieben Schulen aufgetreten, mehrere Klassen sind noch in Quarantäne. Gladbeck ist darum am Mittwoch zur Maskenpflicht zurückgekehrt. Doch kann man daraus tatsächlich schließen, dass Unterricht ohne Maske gefährlicher ist, als die Fachleute glaubten?

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    Schaut man etwas genauer hin, dann gab es „ein Ausbruchsgeschehen“ nur an drei Schulen, erläutert Breßer-Barnebeck. An den anderen vier Schulen sind zwar Schüler positiv getestet worden, doch sie hatten sich, soweit nachzuvollziehen, außerhalb angesteckt und das Virus wahrscheinlich nicht weitergegeben. An den drei Schulen, an denen das Kreisgesundheitsamt Infektionsketten unter den Schülern gefunden hat – ein Gymnasium, eine Gesamtschule, eine Realschule –, hätten sich jeweils „zwei, drei Leute“ angesteckt, so Breßer-Barnebeck. Wo genau sich die Schüler infiziert haben, ist nicht bekannt. Es kann, muss aber nicht in der Schule gewesen sein. Es handelt sich jedenfalls nicht immer um Schüler einer Jahrgangsstufe.

    „Nach meiner Kenntnis haben wir bisher keine großen Infektionsketten in Schulen gesehen“, erklärt der Virologe Prof. Ulf Dittmer von der Uniklink Essen allgemein. „Bei allen Kontaktnachverfolgungen ist herausgekommen, dass die Jugendlichen sich nach der Schule getroffen haben und eng beisammen waren. Für junge Leute ist es biologisch einfach nicht vorgesehen, soziale Kontakte zu meiden, Abstand zu halten und Maske zu tragen. Das widerspricht komplett der Biologie eines jungen Menschen. Das ist evolutionär bedingt und hormongesteuert.“

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    In der Summe haben sich 20 bis 30 Schüler angesteckt, inklusive der Einzelfälle. Das genügt schon, den Inzidenzwert in Gladbeck nach oben zu treiben, denn die absoluten Zahlen sind weiterhin gering. Der Inzidenzwert wird auf 100.000 Einwohner berechnet. Da Gladbeck nur etwas über 75.000 Bürger zählt, kann man vom Inzidenzwert ein Viertel abziehen um auf die Zahl der Fälle zu kommen. Insofern ist die Aussage, dass die Schüler wesentlich zum Geschehen beitragen, nicht falsch.

    Viel spricht jedoch dafür, dass Wohnverhältnisse und Verhalten eine bedeutendere Rolle gespielt haben. Dittmer erklärt: „Das Virus hat eine soziale Komponente. Menschen, die beengt leben und vielleicht weniger wissen über das Virus, stecken sich eher an. Insofern sind auch Städte mit sozial schwächeren Stadtteilen stärker gefährdet.“ Der Berliner Bezirk Neukölln ist hier ein Beispiel, aber auch in Bremen, Dittmers Heimatstadt, seien vor allem die sozial schwächeren Stadtteile mit hohem Migrantenanteil betroffen.

    Essen als Gesamtstadt hat am Freitag ebenfalls kurzzeitig die Inzidenz-Schwelle von 50 gerissen und wird am Wochenende zum Risikogebiet erklärt. Doch auch hier sind die Fälle sehr ungleich verteilt. „Das Virus hat eine ganz klare Häufung im Essener Norden“, erklärt Dittmer. „Am Anfang war es durch zurückkehrende Skifahrer stärker im Süden verbreitet, doch das hat sich deutlich verschoben.“ Allerdings wäre es auch falsch, eine starke Korrelation mit dem Migrantenanteil zu vermuten. In Essen sind zwar Frohnhausen, Altendorf und Holsterhausen sowie der Bezirk Innenstadt am stärksten betroffen, mit einem erhöhten Ausländeranteil. Stark migrantisch geprägte Stadteile wie Karnap, Katernberg und Altenessen rangieren jedoch hinter der eher wohlsituierten Ruhrhalbinsel mit Heisingen und Kupferdreh.

    Gladbecks Sprecher erklärt ebenfalls: „Bei uns treten Fälle über das gesamte Stadtgebiet auf, aber es häuft sich schon auffällig im Bereich sozial schwächerer Stadtteile oder Straßenzüge. Es bestätigt sich bei uns, was sich auch in anderen Kreisstädten beobachten lässt.“ Virologe Ulf Dittmer resümiert: „Gladbeck hatte vermutlich durch ein paar Ereignisse Pech und war früher dran als andere. Ich denke aber, dass nun alle deutschen Großstädte nachziehen werden.“