Moria. Verena Würz (25) leistete auf Lesbos humanitäre Hilfe, als das Feuer kam. „Moria ist ein grausamer Ort“ und Corona nun nicht mehr einzudämmen.
Es ist gerade vier Tage her, da schlug Verena Würz in Griechenland Alarm: „Mehrere Covid-Fälle im Camp Moria“, schrieb die Essener Medizinstudentin auf Facebook. „Wir erwarten, dass die Ausbreitung nun nicht mehr eingedämmt werden kann“, die „Katastrophe“ sei eingetreten. Dann kam das Feuer, mit den Flüchtlingen flohen auch die Corona-Kranken. Und Verena Würz ist sicher: „Wir steuern auf die nächste Katastrophe zu.“
Sie hatten nicht viel, die medizinischen Helfer in der Notfall-Station in Moria. Ein Container, zwei Liegen. Für mehr als 12.000 Menschen. Am Mittwochmorgen, als die meisten Brände der Nacht gelöscht waren, war Verena Würz wieder da, zu „schauen, was noch zu retten ist“: Nichts. Was nicht verbrannte, ist geschmolzen. 80 Prozent der Medikamente, medizinische Gegenstände, „alles kaputt“. Die angehende Ärztin, selbst unversehrt, sah Menschen, die aufsammelten, was man noch gebrauchen kann, eine Frau schleppte eine angekohlte Matratze davon. Die 25-Jährige konnte nicht lange bleiben, gleich nebenan loderte der Brand wieder auf.
„Moria wurde abgebrannt“, sagt die Medizinstudentin
Die Luft war voller Rauch, „ich habe mir sicher zehn Raucherjahre draufgeladen“, sagt Würz. „So viel Feuer habe ich noch nie gesehen, „unvorstellbare Dimensionen“, dabei ist sie zuhause schon lange im Rettungsdienst der Feuerwehr tätig. Bilder davon hat sie im Internet hochgeladen, man sieht die Flammen, man sieht Menschen rennen. In ihrer Unterkunft, etwas entfernt, hatte sich die Nachricht „Es brennt in Moria“ schnell in „Moria brennt“ gewandelt. Verena Würz sagt nicht, das Lager sei abgebrannt, sie sagt, „es wurde abgebrannt“. Wer es wirklich war, weiß sie nicht.
Was sie weiß, ist: Die meisten Menschen sind fort, irgendwo im „Nowhere“ zwischen der nächsten Stadt Mytilini und den umliegenden Dörfern, auf den Straßen, im Wald. Niemand wisse, wo genau, die Helfer können sie nicht erreichen, die Polizei hat Straßensperren aufgebaut. „Auf den Straßen sitzen Tausende Menschen ohne jede Struktur oder medizinische Versorgung.“ Wo ist der Mann mit der Augenentzündung, wo sind die Kinder, deren Wunden sie eben noch nähten? Und wo sind die Covid-Patienten?
Isolierte Patienten flohen mit den Gesunden vor dem Feuer
Die Erkrankten waren isoliert, zusammen mit ihren Kontaktpersonen, es gab einfach nicht genug Platz, sie zu trennen. Letzte Woche, sagt Verena Würz am Telefon, haben sie die „Kontrolle verloren“ über das Virus, vor dem sie so lange gewarnt hatten. Das Thema, klingt es bitter, sei nun „endgültig durch“: „Die Isolationspatienten sind gemeinsam mit allen anderen vor dem Feuer geflohen“, eigentlich sind sie noch froh, dass die Tore ihres „Gefängnisses“ überhaupt aufgingen. Aber „eine Eindämmung des Virus ist unmöglich geworden“. Sie wolle nicht wissen, „wie viele Infizierte wir in fünf Tagen haben“. Und wo und ob überhaupt, wird man sie finden?
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Die 25-Jährige aus Düsseldorf hat schon viel gesehen: Dies ist ihr vierter humanitärer Einsatz, zweimal schon fuhr sie auf dem Seenotretter „Seawatch“ mit. Sie war dabei, als im Sommer 2019 die „Seawatch 3“ nach mehreren Wochen auf See in den Hafen von Lampedusa einfuhr – trotz Verbots. Und jetzt Moria.
„Man kann die Menschen nicht wie Tiere einsperren“
„Moria ist ein grausamer Ort.“ War, müsste sie nun sagen. Vor wenigen Tagen erst erzählte Verena Würz von hygienischen Bedingungen, die „erbärmlich“ waren: „Es gibt kaum Seife, für fließendes Wasser muss angestanden werden, Menschen schlafen in völlig überfüllten Zelten und Containern.“ Eine Toilette „für ich-weiß-nicht-wie-viele Leute“, sagt sie am Telefon, und dann die Enge. „Niemanden vor Ort wundert es, dass diese Situation nun eskaliert ist. Man kann Menschen nicht für Jahre wie Tiere einsperren, ohne dass die Lage irgendwann explodiert.“
Die Opfer dieses „furchtbaren und schrecklichen Ortes“ hatte die Medizinerin bis zu dem verheerenden Brand täglich vor Augen. Von Infektionen und Blutvergiftungen berichtet sie, von Verletzungen durch Unfälle. Und von so vielen Verletzungen an der Seele, „unterschiedlichsten Ausprägungen von posttraumatischer Belastungsstörung“, sie hat Selbstverletzungen gesehen, Suizidversuche, Vergiftungen.
Studentin will bis Oktober bleiben
„Resigniert und abgestumpft“ habe sie das gemacht. Da waren die Menschen wie kleine Geschenke, wie der Mann, dem sie wahrscheinlich das Leben retteten nach einer Infektion. Der kam mit seiner Familie zur Krankenstation, um sich zu bedanken: „Das gibt einem Sinn, wenn man gerade verzweifelt an der Situation.“ Verena Würz ist seit Juli auf Lesbos, bis Anfang Oktober will sie noch bleiben.
Wie es nun aber weitergeht? „Keine Vorstellung.“ Sie sitzen zusammen am Donnerstagmorgen mit den Kollegen der Hilfsorganisation Kitrinos, beraten, warten „händeringend“ auf neue Sachen, Medikamente, suchen Lösungen. Noch können sie nicht zurück in das Lager, in dem es in der Nacht immer wieder gebrannt hat. Die Sicherheitslage ist „zu ungewiss“, es habe nicht nur in den letzten Tagen immer wieder Angriffe auf die Helfer gegeben. Von „Rechten“, sagt die Studentin.
„Jeder Kaffee den ihr diesen Monat nicht draußen trinkt und stattdessen spendet“, so hatte Verena Würz erst vor vier Tagen geschrieben, „kann dabei helfen, Leben zu retten. Und zwar die Leben, die Europa schon vor langer Zeit aufgegeben zu haben scheint.“