Köln. In Köln hat der Prozess im Missbrauchs-Komplex Bergisch Gladbach begonnen. 43-Jähriger soll sich an seinem Baby vergangen und alles gefilmt haben.

In der Sprache der Juristen ist das Sex-Video eine „kinderpornografische Schrift“, das Baby „die Geschädigte“, und jeder Fall hat eine Nummer. Aber Wörter und Zahlen schaffen es nicht, diese Anklage erträglicher zu machen: Jörg L. aus Bergisch Gladbach soll sich zwei Jahre und drei Monate lang an seiner seiner eigenen kleinen Tochter vergangen haben. Die Bilder davon schickte er an andere Männer, die so sind wie er, und wie es nach Monaten der Ermittlungen aussieht, sind sie viele.

„Höher“, mahnt der Verteidiger; so sehr zittern die Hände des Angeklagten, als er den Saal des Kölner Landgerichts betritt, dass er den Aktendeckel vor seinem Gesicht kaum halten kann. Jemand hat Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Film „Der Strafverteidiger“ auf die Pappe geklebt, sie sollen die Blicke der Kameras ablenken, aber der kahle Kopf des 43-Jährigen ist doch zu sehen. Sein Zittern ist die einzige Regung, später sitzt er einfach nur da in Jeans und Pullover, die Hände im Schoß.

Bilderserien vom gerade begangenen Missbrauch

Das also ist Jörg L., gelernter Koch und Hotelfachmann, dessen Wohnort einem ganzen Komplex von Verbrechen seinen Namen gab: Bergisch Gladbach. Vor Gericht wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, Herstellung und Verbreitung kinderpornografischer Schriften, Vergewaltigung, Verabredung zu einem Verbrechen… 79 Fälle zählt die Staatsanwältin auf, aber es ist nicht nur eine Aufzählung. Es ist die Geschichte darüber, was ein Vater seinem Kind antun kann. Einem Kind, das anfangs gerade drei Monate ist: ein Säugling.

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Clémence Bangert beschreibt alles, was die Ermittler auf Fotos und Videos gefunden haben. Was Jörg L. mit dem nackten Kind getan haben soll, sobald seine Frau das Haus verlassen hatte, „in der Absicht, sich sexuell zu erregen und zu befriedigen“. Fast immer um die gleiche Zeit, „8.03 Uhr“ oder „7.31 Uhr und 59 Sekunden“, „wie üblich gegen acht Uhr“, liest die Staatsanwältin vor. Manchmal mehrfach hintereinander, im Juni 2019 beinahe täglich. Einmal schlief das Baby fest, dabei kam es „darauf an, dass das Kind ihn wahrnahm“.

Ohne Windel, aber mit Schnuller

Rechtsanwalt Udo Klemt muss seinen Mandanten ermahnen, den Aktendeckel nicht sinken zu lassen. Dessen Hände zittern.
Rechtsanwalt Udo Klemt muss seinen Mandanten ermahnen, den Aktendeckel nicht sinken zu lassen. Dessen Hände zittern. © dpa | Oliver Berg

Von Nahaufnahmen des nackten Körpers spricht Bangert, ohne Windel, aber mit „Socken mit pinkem Blumenmuster“. Als Zuhörer hält man sich an diesen Beschreibungen fest, um den Schrecken nicht zuzulassen: den gelben Schnuller oder den mit den Tieren, den rosafarbenen Strampler, die karierte Bettdecke, das rote Spannbettlaken. Auf der Wickelkommode im Kinderzimmer soll es passiert sein, auf einem gelben Handtuch im Bett im Elternschlafzimmer, im Planschbecken.

Manchmal muss das Kind versucht haben, sich zu wehren. Es „versuchte sich wegzudrehen“, sagt die Staatsanwältin, es schrie „Mama!“ und „Nein!“, es weinte. Das alles ist auf den Videos offenbar zu hören und zu sehen. Wenige Minuten nach der Aufnahme versendete der Angeklagte die Bilder via Skype.

80 Beschuldigte, zehn Angeklagte, 30.000 Spuren

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Ganze Bilderserien soll er angefertigt haben, nicht „zum Eigengebrauch, sondern für gleichgesinnte Chatpartner“. 52 an einem Sommertag, 34 an einem Tag im November, zwischen 8.12 Uhr und 8.17 Uhr. Sie gingen an Chatpartner, die „Koppelstange“ heißen, „Master of Chaos“ oder gar „Nice Guy“. Nicht alle konnten die Ermittler schon identifizieren, „unbekannt“ heißt es dann in der Anklage. Zehn aber sind bereits angeklagt, gegen 80 Beschuldigte wird noch ermittelt, 30.000 Spuren werden verfolgt, 85 Terabyte Datenvolumen angeschaut.

„Wir haben den Datenberg noch nicht abgetragen“, sagt Ulrich Bremer als Sprecher der Kölner Staatsanwaltschaft. „Das wird uns noch auf Jahre beschäftigen.“ Denn Jörg L. soll ja neben den eigenen Videos auch fremde konsumiert haben, mit Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren, die für Sexbilder im Netz „virtuelle Geschenke“ bekamen: Rose oder Teddybär. 50 Opfer konnte die Polizei bislang aus den Fängern der Täter befreien, viele sucht sie noch.

Aussagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Will die Opfer als „Lotsin“ durch den Prozess begleiten: Rechtsanwältin Monika Müller-Laschet vertritt Tochter und Ehefrau des Angeklagten.
Will die Opfer als „Lotsin“ durch den Prozess begleiten: Rechtsanwältin Monika Müller-Laschet vertritt Tochter und Ehefrau des Angeklagten. © AFP | Ina Fassbender

Und bei allem Schrecken: Für erfahrene Juristen sind die Bilder rund um „Bergisch Gladbach“ „nichts, was man nicht schon mal gesehen hätte“, sagt Monika Müller-Laschet, die als Nebenklage-Anwältin Ehefrau und Tochter des Angeklagten vertritt. Wie es ihren Mandanten geht, dazu will sie nichts sagen. Aber allein das Verfahren, deutet sie in einem Antrag an, übe „erheblichen Druck“ auf sie aus. Die Öffentlichkeit darf deshalb nicht dabei sein, als der Angeklagte am Montag erstmals aussagt: Er, der bislang eisern schwieg, hat eine „Einlassung im Einzelnen“ angekündigt. Das darf – zum Schutz der Opfer – niemand mit anhören. Und auch die Mutter des Kleinkindes, inzwischen drei Jahre alt, wird in der kommenden Woche ohne Publikum aussagen.

Ein erster Täter aus Wesel ist im Mai bereits verurteilt worden, er soll mit dem nun Angeklagten erst Fantasien und dann die eigenen Kinder ausgetauscht haben – unter anderem in einem „Wellness-Bad“ in Essen. Schokoladensirup und -likör sollen die beiden Männer eingesetzt haben, sogar Reizwäsche für ihre Mädchen besorgt, da waren die gerade zwei und drei. Dazu, dass sie sie anziehen mussten, kam es nicht mehr. Am 22. Oktober 2019 wurde Jörg L. festgenommen, sitzt seither in Untersuchungshaft. Damit kam das, was heute „Missbrauchskomplex von Bergisch Gladbach“ heißt, ins Rollen. Und L. ist darin nicht der Haupttäter – er ist einer von vielen.

>>INFO: ZWEITER PROZESS IM MISSBRAUCHS-KOMPLEX

In einem ersten Prozess im „Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach“ ist im Mai bereits ein 27-Jähriger aus Wesel zu zehn Jahren Haft und Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verurteilt worden. Er war laut Gericht jener Mann, der zusammen mit Jörg L. wechselseitig die eigenen Kleinkinder missbraucht haben soll – unter anderem in einem Wellness-Bad in Essen.

Im Verfahren gegen Jörg L. hat das Kölner Landgericht zunächst Termine bis Ende September eingeplant. Im Falle einer Verurteilung drohen dem Mann aus Bergisch Gladbach bis zu 15 Jahre Freiheitsstrafe. Zudem steht die Anordnung einer Sicherungsverwahrung im Raum.