Essen. Ist der schwedische Sonderweg ein Erfolg? Ist Covid-19 doch nur so gefährlich wie Grippe? Der Essener Chefvirologe räumt auf mit Coronamythen.

Über den schwedischen Sonderweg und die Neuinfektionen in NRW haben wir mit Ulf Dittmer gesprochen, Virologe des Uniklinikums Essen. Und da wäre noch die erneut aufgebrachte These, Corona sei nicht gefährlicher als die Grippe.

Anders Tegnell, verantwortlich für den schwedischen Sonderweg, hat im Interview mit dieser Zeitung eine Maskenpflicht abgelehnt. Die Wirksamkeit sei nicht erwiesen.

Das ist nicht wahr. Nicht umsonst hat die WHO den Mund-Nasen-Schutz weltweit empfohlen. Man kann den empfohlenen Mindestabstand nicht in allen Lebenslagen halten und in manchen Situationen genügt auch der Abstand allein nicht. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum man nicht wenigstens den Mundschutz empfiehlt, wenn man das öffentliche Leben so wenig beeinträchtigen möchte wie möglich. Er schränkt die Übertragungsrate nachweislich stark ein.

Tegnell hat auch erklärt, das schwedische Gesundheitssystem sei nie überlastet gewesen.

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Wenn man sich die schwedischen Zahlen anschaut, ist es geradezu zynisch davon zu sprechen, dass der schwedische Sonderweg erfolgreich sei. Es gibt pro Kopf dreimal so viele nachgewiesene Infektionen und fünfmal so viele Tote wie bei uns. Deutschland hätte bei dieser Quote rund 50.000 Tote gehabt statt 9200. Es kommt hinzu, dass die schwedischen Zahlen nicht unbedingt belastbar sind. Offensichtlich sind viele ältere Menschen in ihren Residenzen gestorben und gar nicht zur Behandlung ins Krankenhaus gekommen oder getestet worden. Die Alten besonders zu schützen, was Kern der schwedischen Strategie war, ist eben nicht gelungen - was auch sehr viel schwieriger ist, wenn das Virus breit in der Bevölkerung zirkuliert.

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Wir sind einfach ein Ballungsraum mit vielen großen Städten. Als zweites Problem kommt hinzu: Das Virus ist ein Virus der sozial schwächeren Schichten geworden. Wir haben deutlich mehr Personen, die in prekäreren Wohnverhältnissen wohnen als in Stuttgart oder München. Je enger die Wohnung und je mehr Personen darin wohnen, desto größer ist das Ansteckungsrisiko. Auch Großfamilien spielen dabei eine Rolle.

Hat es auch etwas mit dem Verhalten zu tun?

Die Menschen zwischen 15 und 35 Jahren machen derzeit einen Hauptteil der Neuinfektionen aus. Und die tragen es wiederum hinein in die Familien. Man muss aber auch ein bisschen Verständnis haben für den biologischen Drang: Es fällt gerade jungen Leuten extrem schwer, über eine längere Zeit den Kontakt zu Gleichaltrigen zu meiden. Das ist evolutionär bedingt und hormongesteuert. Das ist aber in NRW genauso wie in Bayern oder anderswo.

Ist die Maskenpflicht im Unterricht sinnvoll?

Wo immer sie durchhaltbar ist, ja. Aber es konterkariert natürlich die Maskenpflicht, wenn sich abends die gleichen Schüler zur Party treffen und sich ein Bier teilen.

In einem breit geteilten Artikel der TAZ vertreten zwei Wissenschaftler - Angela Spelsberg vom Tumorzentrum Aachen und Ulrich Keil, ehemals Epidemiologe an der Uni Münster - die These, dass Covid-19 doch nur etwa so tödlich sei wie eine Grippe. Die Todesrate bei bekannten Infektionen (IFR) liege zwischen 0,1 bis 0,3 Prozent nach neueren repräsentativen Studien.

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Der große Unterschied ist: Gegen Grippe kann man sich impfen, was ja insbesondere die besonders gefährdeten Gruppen auch tun. Zudem gibt es seit Jahren wirksame Medikamente. Es gibt außerdem sehr unterschiedliche Grippeviren, und wir kennen die Todesrate verschiedener Grippeviren nicht wirklich. Die Todeszahlen werden aus der Übersterblichkeit berechnet, aber wir können überhaupt nicht sagen, wie viele Menschen wirklich infiziert waren, da Tests häufig nicht durchgeführt werden. Darum können wir die Todeszahlen nicht ins Verhältnis setzen. Die Schweine-Grippe zum Beispiel war sicher um einen Faktor 5 schwächer, die Asiatische Grippe (1968-70) mag eine Letalität im Bereich 0,4 Prozent erreicht haben. Für Corona kam in der Heinsberg-Studie etwa 0,4 heraus. Eine Rate zwischen 0,4 und 1 Prozent halte ich für realistisch. Das ist aber regional sehr unterschiedlich und hängt mit der medizinischen Grundversorgung der betroffenen Bevölkerung zusammen. (Anm. der Red.: Auch die WHO nennt eine höhere Todesrate (IFR) als die TAZ-Autoren, laut zitierten Studien aus der Schweiz und Schweden liege sie bei 0.5 bis 1 Prozent.)

Spelsberg und Keil kritisieren auch, dass die Politik sich zu einseitig beraten lasse - von zu wenigen Virologen, aber auch zu wenig interdisziplinär?

Ganz am Anfang war das vermutlich so, es war aber auch nicht die Zeit alle Bereiche einzubinden. Das Virus wartet nicht auf eine ausgewogene Diskussionen. Insofern kann ich die Politik auch verstehen. Dann hat man sich aber auch rasch breiter aufgestellt.

Haben Sie den Eindruck, dass zu wenige Virologen in den Medien vorkommen?

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Wir haben 35 Lehrstuhlinhaber in Deutschland. Und alle sind mindestens in der regionalen Presse vertreten. Die meisten haben sich aber entschieden, sich nicht in die Talkshows zu setzen. Einige Kollegen nutzen auch soziale Medien und sind dadurch stärker in der öffentlichen Wahrnehmung. Ich zum Beispiel möchte das nicht und habe gar keinen Twitter- oder Facebook-Account.

Sie geben uns regelmäßig Video-Interviews. Warum meiden Sie die Talk-Shows?

Weil ich glaube, dass dort viele Fragen gestellt werden, die wenig sachlich sind. Politische Fragen, die ich dann als Virologe beantworten soll. Außerdem habe ich hier extrem viele andere wichtige Aufgaben.

Corona versus Grippe- Essener Virologe erklärt Unterschied

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