Stockholm. Während der Corona-Pandemie führte Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell das Land auf einen umstrittenen Sonderweg. Eine Bilanz.

  • Für seinen Umgang mit der Corona-Pandemie musste Schweden viel Kritik einstecken
  • In dem skandinavischen Land gingen die Infektionen zunächst hoch – momentan sind die Infektionszahlen rückläufig
  • Ein Interview mit „Schwedens Christian Drosten“, Staatsepidemiologe Anders Tegnell

Während weltweit viele Länder in den Lockdown gingen, um die Corona-Pandemie zu bremsen, entschied sich Schweden im Frühjahr für einen anderen Weg. Es gab nie eine Maskenpflicht, fast alles blieb erlaubt und geöffnet: sämtliche Geschäfte, Kitas und Schulen bis einschließlich der 9. Klasse, Büros, Bars, Restaurants und Fitnessstudios.

Schweden musste dafür zunächst viel Kritik einstecken – auch deshalb, weil die Zahl der Corona-Toten zu Anfang stark anstieg, die Bundesregierung warnte sogar zeitweise dringend vor Reisen nach Schweden. Inzwischen zeigt die Infektionskurve des skandinavischen Landes wieder nach unten. Anders Tegnell (64) ist Schwedens Staatsepidemiologe und der umstrittene Architekt des Sonderwegs.

In Schweden ist die Zahl der Neuinfektionen zuletzt deutlich zurückgegangen. Auch das Gesundheitssystem war nie überlastet – all das ohne Lockdown. Wie ist das möglich?

Anders Tegnell: Das zeigt, dass man auch mit einem freiwilligen Ansatz, mit Empfehlungen, Erfolg haben kann. Das kann den gleichen Effekt haben, als würde man die gesamte Gesellschaft per Lockdown lahm­legen. Und dies mit bedeutend weniger negativen Nebeneffekten. Zwangsmaßnahmen für das ganze Volk sind riskant, denn man muss ja als Gesundheitsbehörde auf die gesamte Volksgesundheit schauen und darauf, inwieweit die Effekte eines Lockdowns die Menschen so stark belasten, dass zum Beispiel die Sterblichkeit in anderen Bereichen steigt. Etwa dann, wenn sich schwerkranke Patienten nicht mehr zum Arzt trauen. Oder wenn die Zahl der Suizide steigt. Für die meisten Menschen ist es gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden.

„Masken können eine falsche Sicherheit bieten“

Warum haben Sie nicht einmal eine Maskenpflicht eingeführt?

Wir wissen noch immer wenig darüber, inwieweit Masken die Pandemie überhaupt dämpfen können. Wir haben Länder mit scharfer Maskenpflicht, die dennoch unter einer sehr starken Corona-Ausbreitung leiden. Es ist natürlich möglich, dass Masken in gewissen Situationen, in denen Menschen sich auf engem Raum drängen, einen gewissen Effekt haben. In Schweden haben wir keine Anzeichen, dass es eine große Ansteckungsgefahr etwa auf Transportwegen gibt. Wir haben ausreichende Kapazitäten in Schweden und können Abstand halten. Auch können Masken eine falsche Sicherheit bieten. In Schweden haben wir die Strategie, dass man zu Hause bleiben soll, wenn man krank ist, statt sich mit Masken hinauszubegeben. Zudem haben wir in Schweden seit Wochen immer weniger Neuinfizierte, Patienten auf Intensivstationen und Todesfälle. Bei dieser guten Entwicklung ist eine Maskenpflicht zumindest erst mal nicht aktuell für uns.

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Warum hat Schweden so viel mehr Tote pro 100.000 Einwohner gehabt als Deutschland? Mehr als 5700 Menschen sind bei Ihnen gestorben.

Ein großer Anteil der Verstorbenen in Schweden, rund die Hälfte, wohnte in speziellen Altenheimen, wo die Ältesten und besonders Kranken leben. Insgesamt leben dort rund 70.000 Menschen, die meisten sind also gesund geblieben. Einige Altenheime hatten für die Pandemie leider nicht die nötigen Mittel und das nötige Wissen, um die Ausbreitung zu verhindern. Im Grunde geht es beim Infektionsschutz in Altenheimen ja um Dinge, die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt. Weil das nicht so war, hatten wir zu Beginn der Pandemie eine sehr umfassende Verbreitung des Virus in den Altenheimen. Auch in anderen europäischen Ländern – ob mit oder ohne Lockdown – waren diese Gruppen besonders betroffen. Ich denke, dass punktuelle, fokussierte Maßnahmen etwa zum Schutz der Alten besser sind als große, breit angelegte Maßnahmen wie der Lockdown eines ganzen Landes.

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Anders Tegnell ist Schwedens Staatsepidemiologe und wurde im Ausland viel für seinen Sonderweg in der Corona-Pandemie kritisiert.
Anders Tegnell ist Schwedens Staatsepidemiologe und wurde im Ausland viel für seinen Sonderweg in der Corona-Pandemie kritisiert. © AFP via Getty Images | JONATHAN NACKSTRAND

„Wir haben ein sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerung“

Gab es in Schweden viel Kritik an Ihrem Sonderweg?

Nein, es gab eine kleine Forscher-Gruppe, die sehr kritisch war, aber wir haben ein sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerung, das zeigen alle Umfragen. 80 Prozent aller Schweden folgen unseren Empfehlungen, was ja eine hohe Zahl ist.

Im Ausland gab es dagegen viel Kritik ...

Das war gemischt. Viele ausländische Medien waren sehr interessiert und verständnisvoll. Deutsche Medien waren vielleicht kritischer als in anderen Ländern. Ich erkläre mir das so: Es ist natürlich eine unangenehme indirekte Kritik an der Strategie des eigenen Landes, wenn man auf ein Land wie Schweden schaut, das weniger dramatische Pandemie-Maßnahmen ergriffen hat und doch die gleichen Effekte erzielt. Gerade auch dann, wenn Zwangsmaßnahmen des Lockdowns sehr belastend für die eigenen Bürger waren.

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Hat der Verzicht auf den Lockdown die Wirtschaft geschont? Im zweiten Quartal sank das Bruttoinlandsprodukt in Schweden zwar um deutliche 8,6 Prozent. EU-weit aber sackte es um 12,1 Prozent ab, in Deutschland immerhin um 10,1 Prozent.

Das müssen Sie eigentlich einen Ökonomen fragen. Aufgabe meiner Gesundheitsbehörde ist es, die Volksgesundheit zu schützen und nicht die Wirtschaft. Aber Schweden ist ja sehr exportabhängig. Unser BIP sank zwar nicht so stark wie in vielen anderen Ländern, aber doch deutlich. Schweden ist sehr exportabhängig, es wäre es seltsam, wenn das BIP nicht sinken würde, wenn es im Rest der Welt sinkt. Um da eine deutlichere Aussage zu treffen, muss man wohl die Erholungsphase abwarten.

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