Bochum. Von Corona genesen, heißt nicht: gesund. Mustafa Aydin (76) erkrankte vor über sieben Wochen. Jetzt kämpft er in der Reha um sein altes Leben.
Ein Krankenwagen brachte Mustafa Aydin am 13. Juli ins Wattenscheider Marienhospital. Im Rollstuhl schoben die Sanitäter den 76-Jährigen auf Station 2, die Schwestern halfen dem Patienten ins Bett von Zimmer 250. Eine Woche später marschiert Mustafa Aydin – noch etwas wackelig, aber auf eigenen Beinen – mit seiner Tochter Melike (31) über den Klinikflur. „Ich habe ein zweites Leben geschenkt bekommen“, erzählt der Mann, der sich vor gut sieben Wochen mit dem Sars-CoV-2-Virus infizierte und an Covid-19 erkrankte.
Seine Tochter sagt, sie hätte tatsächlich nicht mehr damit gerechnet, dass ihr Vater die Infektion überlebt. 14 Tage lang lag der ehemalige Schweißer auf der Intensivstation des Josef-Hospitals, zweimal musste er reanimiert werden; drei weitere Wochen wurde er anschließend auf der „Corona-Normalstation“ isoliert. Erst dann war er soweit, dass er in die (geriatrische) Früh-Reha des Marienhospitals wechseln konnte, das wie das Josef-Hospital zum Katholischen Klinikum Bochum gehört. Hier soll er wieder auf die Beine kommen, seine alte Selbstständigkeit neu erlernen. Denn genesen von Corona heißt nicht: gesund.
„Der Positiv-Bescheid, das war ein Schlag ins Gesicht für uns“
Melike Aydin muss vieles von dem, was ihr Vater zu sagen hat, übersetzen – obwohl er schon 1973 aus der türkischen Hafenstadt Mersin nach Bochum kam. Aber er kann sich an die vergangenen Wochen ja auch kaum erinnern. Dass ihn die Tochter, eine angehende Altenpflegerin, Anfang Mai ins Wattenscheider Martin-Luther-Krankenhaus brachte, ist das Letzte, was er weiß. „Von jetzt auf sofort“ hätte sich der Zustand ihres Vater damals erschreckend verschlechtert, erzählt die 31-Jährige. Alarmiert rief sie den Krankenwagen, fürchtete nach bekanntem Vorhofflimmern: „wieder mal das Herz.“ Tatsächlich diagnostizierten die Klinikärzte ein kardiologisches Problem, der Corona-Abstrich erfolgte routinemäßig. Am 8. Mai dann, „morgens bei der Übergabe im Dienst“ kam der Anruf, berichtet Melike Aydin: „Ihr Vater ist Covid-positiv!“
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„Das war ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sie sich. „Für uns ist eine Welt zusammen gebrochen.“ Zur Sorge um den Vater kam die um die Mutter – und die um ihre eigenen, alten Patienten, ob sie unwissentlich jemanden angesteckt habe. Im Gegensatz zum Abstrich ihrer Mutter war der von Melike Aydin jedoch negativ. Und die Erkrankung der Mutter verlief „symptomfrei“.
Mustafa Aydin erinnert sich nur daran, wie schwach er sich fühlte und wie einsam
Mustafa Aydin jedoch ging es zunehmend schlechter: Noch am Tag der Diagnose verlegte man ihn ins Josef-Hospital – auf die Intensivstation für Corona-Patienten. „Zur Covid-19-Infektion kam eine Superinfektion, eine bakterielle Lungenentzündung“, erläutert Dr. Sascha Unverricht, Oberarzt im Wattenscheider Marienhospital. „Und wir durften ihn weder sehen, noch sprechen, wegen der Quarantäne und des Besuchsverbots“, erinnert sich Melike Aydin. Täglich telefonierte sie mit den behandelnden Ärzten – und schreckte doch bei jedem Klingeln auf… fürchtete, die Nachricht, die sie womöglich erwartete. Mustafa Aydin bekam all das nicht mit. Er fiel in ein Delir, war völlig verwirrt, kämpfte um sein Leben. Das einzige aus dieser Zeit, das in seiner Erinnerung haften blieb, war, wie „schwach und müde“ er sich fühlte und wie „einsam und traurig“ er war.
Als Tochter und Ehefrau Mustafa Aydin endlich doch wieder besuchen durften, erkannten sie ihn kaum wieder: Der einst so agile, lebensfrohe, positive Mann lag apathisch im Bett, war kaum ansprechbar, erzählte wirres Zeug, von Toten, mit denen er geredet habe. „Diese kognitiven Einschränkungen“, sagt seine Tochter, „dass er keine adäquaten Antworten auf unsere Fragen gab, das war das Schlimmste.“ Und die Hilflosigkeit des früher so stolzen Mannes. Als es ihm etwas besser ging, erlaubte er seiner Tochter zwar, ihm die Fingernägel zu schneiden. „Doch während ich es tat, rollten ihm die Tränen übers Gesicht“, sagt Melike Aydin.
Corona-Patienten müssen auch mit der Stigmatisierung zurecht kommen
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Sie selbst weinte auch. Aber viel später: Als sie ihren Vater in der vergangenen Woche das erste Mal wieder gehen sah. „Seit er in der Reha ist, macht er gewaltige Fortschritte“, erklärt die Tochter. Dass er überhaupt hier sein kann: ist ein großes Glück. Viele Reha-Kliniken sind schon geschlossen, nicht alle können Corona-Patienten aufnehmen. Im Wattenscheider Marienhospital machen sie das möglich, „weil es nötig ist“, wie Unverricht sagt. Schon eine ganz normale Lungenentzündung schwäche ältere Patienten so stark, dass sie danach allein nicht mehr in ihr normales Umfeld zurück könnten. „Und bei Covid-19-Erkrankten fangen wir wegen ihrer langen Isolationszeit noch weiter hinten an.“
Unverricht räumt ein, dass anfangs die Verunsicherung „extrem“ gewesen sei. „Niemand möchte mit einem Covid-19-Patienten auf dem Zimmer liegen“, erläutert Katarzyna Rosenau, die als Krankenschwester Station 2 leitet. „Aber alle Patienten haben das Recht auf Behandlung.“ Ehemalige Corona-Patienten werden deshalb nun auf Einzelzimmern untergebracht – auch wenn viele das gar nicht gut finden, nach der langen Zeit der Isolation lieber wieder jemanden zum Reden im Bett nebenan hätten; gemeinsames Essen und Gruppentherapien finden vorläufig nicht statt, die Besuchszeiten sind noch immer eingeschränkt. „Die Ängste, auch die von Angehörigen, sind da, das ist ja nachvollziehbar. Wir haben hier über 200 Patienten. Und die gehören alle zur maximalen Risikogruppe“, erläutert Belinda Johannes, Bereichsleitung Pflege. „Corona-Patienten müssen auch mit der Stigmatisierung zurecht kommen“, sagt Unverricht.
Man unterschätzt, wie sehr eine schwere Erkrankung einen Menschen schwächt
Mustafa Aydin selbst behauptet, dass er sich nicht ausgegrenzt fühle – im Gegensatz zu seiner Frau. Die werde nun von den Nachbarn gemieden. „Früher kamen die am Nachmittag immer auf einen Tee bei ihr vorbei, jetzt nicht mehr“, erzählt die Tochter. Umso mehr drängt es ihren Mann, wieder zurück nach Hause zu können. „Schön duschen und im eigenen, warmen Bett liegen“, das wünsche er sich derzeit am meisten. In die Teestube wird er vorerst nicht wieder gehen. Seine Frau hat gedroht, ihn rauszuwerfen, sollte er sich dort wieder sehen lassen. Denn in der Teestube, glaubt die Familie, habe er sich den Virus eingefangen.
Zwei bis drei Wochen bleiben Patienten normalerweise in der Früh-Reha, Corona-Patienten brauchen oft mehr Zeit. Ergo- und Physiotherapie stehen für sie neben dem Atemtraining täglich auf dem Programm. Nach dem ersten Tag am „Motomed“, der „Muckimaschine“, habe er mächtig Muskelkater gehabt, erzählt Mustafa Aydin. „Normal“, sagt Therapeutin Claudia Urner. Man unterschätze, wie sehr die Muskulatur „nicht nur in Armen und Beinen, sondern auch im Rumpf“ abbaue, wie sehr ein langer Krankenhausaufenthalt und eine schwere Erkrankung einen Menschen schwächten. Aber Mustafa Aydin sei auf bestem Wege und sehr, sehr motiviert. „Er hat einen starken Willen, er will sein altes Leben zurück. Und das Ziel vor Augen zu haben, kann Berge versetzen“, weiß sie.
„Wäre er beatmet worden, ginge es ihm jetzt nicht so gut“
Aydin sei „sehr schwach gewesen und stark verlangsamt“, als er kam, sagt Unverricht, der behandelnde Arzt. Dass seine „Rekonvaleszenz“ so gut und so schnell verlaufe, habe er nicht erwartet. Wäre sein Patient, wie andere Corona-Kranke beatmet worden, ginge es ihm heute sicher längst nicht so gut: „Das wäre ein Marker gewesen für ein sehr viel schlechteres Outcome.“ Denn die Beatmung schadet der Lunge, weil sich deren Muskulatur abbaut. „Die meisten haben große Probleme, wenn sie wieder anfangen müssen, selbst zu atmen.“
Mustafa Aydin weiß, welches Glück er hatte; und er weiß zu schätzen, wie ihm geholfen wurde. Seine Tochter möge das übersetzten, bittet er. Aber die weigert sich, „ich hab dafür keine Worte“, erklärt sie leise. Und da versucht es ihr Vater mit glänzenden Augen doch selbst: „Danke schön an jede Person, alles ist schön!“
Bis auf eine Sache: Mustafa Aydin schmeckt’s nicht mehr. Jedenfalls nicht das, was ihm seine Frau kocht. Am letzten Wochenende brachte sie dem Genesenden selbstgemachte Leckererein in die Klinik. „Zu stark gewürzt“, befand ihr Mann und aß kaum etwas davon. Spätfolge der Corona-Erkrankung? Im Marienhospital glaubt man eher: Resultat wochenlanger Krankenhauskost.
>>>> Info: Covid-19-Infektion
Im Steckbrief des Robert-Koch-Instituts heißt es: Die Verläufe einer Covid-19-Erkrankung können sehr unterschiedlich sein. Die milde Form sei in im Schnitt zwei Wochen überstanden, schwere Verläufe erst nach drei bis sechs. „Kritisch“ seien maximal fünf Prozent aller Fälle.
Etwa 1 7 Prozent der Patienten müssten stationär behandelt werden, knapp die Hälfte von ihnen intensivmedizinisch. Im Schnitt verbringen Covid-19-Patienten den Angaben zufolge zehn Tage im Krankenhaus.