Witten. „Es ist wichtig zu zeigen, wer da stirbt“: Pflegewissenschaftler stellen eine Kondolenz-Seite für Corona-Tote im Gesundheitsbereich ins Netz.
Da war dieser junge, syrische Flüchtling: ein angehender Arzt, in Deutschland schloss er sein Studium ab, fand sofort danach Arbeit: In der Praxis eines niedergelassenen Allgemeinmediziners startete er hoffnungsvoll seine berufliche Karriere. Doch gleich bei der Behandlung seiner ersten Patienten infizierte sich der junge Arzt mit dem Coronavirus, erkrankte an Covid-19 – und starb daran. Es sind Geschichten wie diese, die Franziska Anushi Jagoda und Mike Rommerskirch erzählen wollen. Die, wie sie finden, erzählt werden müssen, „um den Corona-Toten im Gesundheitsbereich ein Gesicht zu geben“.
Zusammen mit drei anderen ehemaligen Studenten der Pflegewissenschaften der Uni Witten/Herdecke (siehe Info) starteten die beiden – ehrenamtlich – eine Kondolenzseite im Internet, angelehnt an ihren gemeinsamen Podcast „Übergabe“, der sich seit Ende 2018 allgemeinverständlich mit pflegespezifischen Themen befasst. Bei der Recherche für ein „Corona-Special“ stießen die Pflegewissenschaftler auf Dutzende von Trauerportalen für die Opfer der Viruserkrankung in Kliniken oder Altenheime. Menschen, die gestorben waren, während und weil sie anderen Erkrankten helfen wollten. „Diese Seiten“, erläutert Mike Rommerskirch, „beeindruckten mich sehr. Aber es gab sie nur im englischsprachigen Raum. Für Deutschland fanden wir nichts.“ Die Idee für eine eigene Plattform war damit geboren.
„Über Tote zu berichten, führt zu mehr Achtsamkeit angesichts der Pandemie“
„Es ist generell wichtig, über alle Toten zu berichten, zu zeigen, wer da stirbt“, erklärt Franziska Jagoda. „Denn es führt zu mehr Sensibilisierung und Achtsamkeit angesichts der Pandemie.“ Zu zeigen, dass unter den Opfer auch die sind, die zu Beginn der Krise so oft herzlich „beklatscht“ wurden, verdeutliche, wie wichtig deren Job ist, ergänzt sie. „Und vielleicht demonstriert es auch, wie zynisch jener Beifall eigentlich war.“ „Ein Tarifvertrag würde den Beschäftigten in der Altenpflege jedenfalls mehr helfen als ein Sonderbonus“, glaubt Mike Rommerskirch. „Doch darum müssen viele noch immer betteln.“
Nun sind die Fallzahlen in Großbritannien und den USA ungleich höher als in Deutschland: fast 300.000 Briten sind aktuell mit SarsCoV-2 infiziert, über 40.000 bereits gestorben; bereits Mitte Mai meldete der staatliche Gesundheitsdienst, der National Health Service, 181 Tote in den eigenen Reihen. Die Amerikaner verzeichnen aktuell 111.000 Tote und knapp zwei Millionen Infektionen, die Zahl der Todesopfer im Gesundheitsbereich dürfte vierstellig sein. Mindestens. Mitte Mai berichtete der SWR unter Berufung auf das Robert-Koch-Institut (RKI), dass sich seit Mitte April in Deutschland täglich 230 Ärzte, Pfleger und andere aus Gesundheitsberufen mit dem Virus ansteckten; 20.000 waren es demzufolge bis dahin insgesamt, 60 seien gestorben. Die Wittener Studenten fahndeten selbst lange nach einer belastbaren Zahl für Deutschland, hielten die 68, die ihnen das RKI nannte, schließlich für die plausibelste.I
„In Deutschland trauern die Angehörigen anders, stiller“
Seit Mitte Mai ist ihre Kondolenzseite nun online zu finden – doch die Opfer, denen sie ein Gesicht geben sollte, sind noch immer nur Schatten. „Bei 68 Toten gilt es, die Nadel im Heuhaufen zu suchen“, sagt Franziska Jagoda. Und natürlich müssen die Angehörigen zustimmen, dass die Geschichte „ihres“ Toten veröffentlicht wird. Sie anzusprechen, nennt die 29-Jährige einen „Drahtseilakt“. „Das Thema ist hier nicht so präsent und die Deutschen trauern anders als die Menschen in Großbritannien oder in den USA“, so Jagoda. „Sie trauern still, wollen Abstand, keine Berichterstattung.“ Wenn die erste Geschichte auf der Seite zu lesen ist, werde es sicher leichter, hofft sie. Es könnte die des jungen Syrers sein.
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Immerhin: 45.000-mal wurde die Seite bereits aufgerufen und in Social Media viel „retweetet“, weitergeleitet, berichtet Mike Rommerskirch. An Mut machenden Kommentaren unter der Trauerseite und Dank „für diese sehr gute aber auch emotionale Idee“ (Bernd aus Lengerich) fehlt es ebenfalls nicht. „Enttäuscht“ sind die fünf ehemaligen Studenten der Uni Witten/Herdecke darum nicht. „Wir haben nicht mit einem Ansturm gerechnet und schon viele erreicht, womöglich sensibilisiert für den andauernden Ernst der Lage“, sagt der 33-Jährige. Der nämlich gehe über die aktuellen Lockerungen „verloren“, was er „gefährlich“ findet. ,„Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Pandemie nicht vorbei ist. Wir stecken mittendrin. Da sollte sich die Menschheit am Riemen reißen und nicht für jedes bisschen Konsum rausgehen und dabei riskieren, andere anzustecken.“
Kondolenzseite sucht noch nach den ersten Geschichten
Womöglich wollen sie ihre Plattform dennoch erweitern – um Geschichten von Menschen aus dem Gesundheitsbereich, die ihre Covid-19-Erkrankung überlebt haben. Auch diese Menschen leiden, zeigten erste Studien aus dem italienischen Bergamo, Epizentrum der Corona-Krise dort. Rommerskirch: „Sie fragen sich, wen habe ich angesteckt, ohne es zu wissen? Wer ist gestorben, weil ich ihn infiziert habe?“ Pflege ohne Kontakt, sagt er, „ist ja nicht machbar.“
Wer die Geschichte eines Corona-Toten erzählen möchte, egal ob es sich um einen Kranken- oder Altenpfleger, eine Ärztin, Koch oder Reinigungskraft handelt, kann sich direkt an Franziska Jagoda (Franziska.jagoda@uni-wh.de) wenden oder sich über die Kondolenzseite melden. Diese findet sich unter: https://uebergabe.de/podcast/covid19/.
Info: Das Team
Fünf ehemalige Pflegewissenschaft-Studenten der Uni Witten/Herdecke bilden das Ehrenamtler-Team, das die Kondolenzseite erfand und betreut:
Christian Köbke (35). Er heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld
Eva Maria Gruber (28), jetzt wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Wirtschaft- und Sozialwissenschaften an der Hochschule Osnabrück
Alexander Hochmuth (30) arbeitet inzwischen in der Stabsstelle Pflegeentwicklung am Klinikum Herford
Mike Rommerskirch (33) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
Franziska Anushi Jagoda (29) ist inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke
Die Seite entstand in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe Nordwest und Anna Wardega, der Initiatorin von #respectnurses.