Düsseldorf. Vor 20 Jahren explodierte die Rohrbombe am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf. Warum der Anschlag bis heute noch immer nicht aufgeklärt ist.

Es ist eine Explosion an jenem Donnerstagnachmittag, dem 27. Juli 2000, die das Land erschüttert. Die Bombe, die in einer weißen Plastiktüte am Geländer einer Brücke vor dem S-Bahnhof-Ausgang an der Ackerstraße in Düsseldorf hängt, geht um 15.04 Uhr hoch. Ein Platzregen wird wenig später wichtige Spuren und das Blut der Opfer hinwegspülen. Sieben Frauen und drei Männer, alle Schüler einer benachbarten Sprachschule, werden teils lebensgefährlich verletzt. Sechs sind jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, vier sind Russland-Deutsche. Tatjana L. aus Odessa ist im fünften Monat schwanger, ein Metallsplitter, der ihren Unterleib trifft, tötet das ungeborene Kind. 20 Jahre später ist immer noch nicht klar, wer die Bombe gelegt hat – der Bundesgerichtshof wird sich demnächst mit dem Anschlag beschäftigen.

Der Eingang zum S-Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn: Bei einem Bombenattentat wurden am 27. Juli 2000 zehn mehrheitlich jüdische Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion verletzt und das ungeborene Kind einer damals 26-Jährigen getötet.
Der Eingang zum S-Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn: Bei einem Bombenattentat wurden am 27. Juli 2000 zehn mehrheitlich jüdische Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion verletzt und das ungeborene Kind einer damals 26-Jährigen getötet. © dpa | Martin Gerten

Die psychologische Wirkung der Bombe im Jahr des Anschlags ist gewaltig. Die Jüdische Gemeinde ist in Aufruhr, und Ministerpräsident Wolfgang Clement verspricht, man werde „nicht eher ruhen, bis wir die Urheber dieses gemeinen Verbrechens dingfest gemacht haben“. Drei Monate später schleudern Unbekannte Molotow-Cocktails gegen die Düsseldorfer Synagoge an der Zietenstraße. Kanzler Gerhard Schröder ruft zum „Aufstand der Anständigen“ auf.

Waren es Araber voller Judenhass oder wares die Russenmafia?

Der öffentliche Druck nach dem Wehrhahn-Anschlag ist enorm, und mit ihm wuchern die Spekulationen und Verschwörungstheorien. Waren es Araber voller Judenhass, war es ein Racheakt der Russenmafia, war es gar nur eine Beziehungstat oder waren die Betroffenen reine Zufallsopfer? 1500 Zeugen werden befragt, 300 Spuren verfolgt, 400 Beweismittel ausgewertet. Dabei hat die Staatsanwaltschaft den Mann, den sie mehr als 17 Jahre später wegen zwölffachen versuchten Mordes anklagen wird, schon damals stundenlang in der Mangel.

Beamte sichern am 27. Juli 2000 Spuren im Eingangsbereich des S-Bahnhofs Wehrhahn in Düsseldorf.
Beamte sichern am 27. Juli 2000 Spuren im Eingangsbereich des S-Bahnhofs Wehrhahn in Düsseldorf. © dpa | Gero Breloer

Ein ehemaliger Bundeswehrsoldat ist der erste Tatverdächtige, er wird intensiv verhört, seine Wohnung auf den Kopf gestellt. Er führt 200 Meter vom Tatort im Stadtteil Flingern den Militaria-Laden „Survival Security & Outdoor“, in dem sich Skinheads mit Kampfanzügen und Neonazi-Musik versorgen. Der Laden läuft schlecht, er kann die Miete nicht bezahlen, hat einen Offenbarungseid geleistet. Er gilt im Viertel als rechtsradikaler Spinner, patrouilliert mit Hund durch die Straßen, nennt sich Sheriff von Flingern. Aber er hat ein Alibi: Zwei Frauen sagen zu seinen Gunsten aus.

Ich habe „an einem Bahnhof Kanaken weggesprengt“

Er fühlt sich so sicher, dass er fast 14 Jahre später einen folgenschweren Fehler begeht. Er sitzt wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe in Castrop-Rauxel im Gefängnis und prahlt vor einem Zellengenossen mit dem Anschlag. Er habe „an einem Bahnhof Kanaken weggesprengt“. Mehr noch: Er beschreibt den Bau der Bombe bis ins Detail. „Da war ein mögliches Täterwissen im Spiel“, sagt Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück damals. Er rollt den Fall im Sommer 2014 wieder komplett auf.

Ein Mann hält den Nachbau einer selbstgebauten Rohrbombe, die beim Bombenanschlag am 27. Juli 2000 sogenannten Wehrhahn-Anschlag in Düsseldorf verwendet wurde, im Gerichtssaal des Landgerichtes in der Hand.
Ein Mann hält den Nachbau einer selbstgebauten Rohrbombe, die beim Bombenanschlag am 27. Juli 2000 sogenannten Wehrhahn-Anschlag in Düsseldorf verwendet wurde, im Gerichtssaal des Landgerichtes in der Hand. © dpa | Frank Christiansen

„Wir haben 69 000 Blatt der Akte noch einmal neu überprüft“, erzählt Ermittler Udo Moll, „wir haben alle verfügbaren Zeugen noch einmal befragt, wir hatten nun auch die Profiler der Operativen Fallanalyse des Landeskriminalamts, die monatelang sämtliche Fakten untersucht und dann eine Analyse erstellt haben.“

Die Motivlage ist eindeutig, glaubt der Staatsanwalt

Zudem platzt laut Staatsanwalt auch das Alibi des Verdächtigen: Die Frauen sagen aus, der Mann habe sie damals „massiv unter Druck gesetzt“, und sie widerrufen. Das Profil des Mannes und seine Motivlage sind für Herrenbrück eindeutig: „Er ist ausländerfeindlich und hat Ausländer sogar für seine finanzielle Misere mitverantwortlich gemacht nach dem Motto, die bekommen alles und wir Deutschen nichts.“

Im Juli 2018 wird der Angeklagte freigesprochen

Doch obwohl Herrenbrück vor Gericht akribisch alle Indizien auflistet, muss er am 31. Juli 2018 die Fassung bewahren: Der Angeklagte wird freigesprochen. Die Beweislage sei nach der Anhörung von 78 Zeugen und drei Gutachtern zu dünn gewesen, sagt der Vorsitzende Richter Rainer Drees. Vier Hauptzeugen, zwei ehemalige Mithäftlinge, denen der Angeklagte die Tat jeweils einzeln gestanden haben soll, eine frühere Lebensgefährtin und eine Freundin, seien zu widersprüchlich in ihren „mangelhaften Erinnerungen“ gewesen. „Vier unbrauchbare Aussagen können Sie nicht zu einer brauchbaren zusammenfassen“, schließt Drees.

Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil aufheben, müsste der 54-Jährige Mann wieder vor Gericht erscheinen. Ansonsten glaubt wohl niemand, dass der Anschlag noch aufgeklärt wird.