Essen. Über 25 Jahre war Silke H. schwer krank. Jetzt lebt sie mit den Organen einer Spenderin – ein ganz neues Leben. Eines, in dem Pläne möglich sind.
Als sie uns entgegen kommt, in der Ambulanz des Essener Klinikums, grinst Silke H. über beide Backen. Das ist sogar unter ihrem Mund-Nasen-Schutz zu erkennen. Und sie sagt, sie tut das jetzt ständig: breit grinsen. Abends, wenn sie im Bett liegt – und morgens gleich wieder, unter der Dusche. „Mir geht es so gut“, erklärt sie. „Mit 30 hab ich mich zuletzt so fit gefühlt. Hammer!“
Auch interessant
Vor fast genau einem halben Jahr, im Januar, trafen wir die 51-Jährige aus Mönchengladbach an gleicher Stelle schon einmal. Geklagt hat sie auch damals nicht viel, aber: Damals war sie ein anderer Mensch. Niemand, der strahlte. Damals wartete die schwer kranke Frau auf zwei Spenderorgane. Karneval wurden sie ihr transplantiert.
Der Anruf kam am Abend des Karnevalssonntags
„Der Anruf kam am Sonntagabend, dem 23. Februar, kurz vor zehn“, erinnert sich Silke H. , sie habe schon die Tasche in der Hand gehabt, für die Nacht auf der Dialyse-Station. Drei Nächte pro Woche verbrachte sie dort. Zysten hatten ihre Leber zerfressen, auch die Nieren waren davon schwer geschädigt. Mit 25 entdeckten die Ärzte die erste Geschwulst bei ihr, die Diagnose „Polyzystische Leber- und Nierenerkrankung“ kam später. Es ist eine genetisch bedingte Erkrankung, H.s Mutter starb daran, ohne den Namen je zu erfahren.
H. tauschte die Dialysetasche gegen den längst gepackten Klinikkoffer und stieg ins Auto. „Gelistet“ war sie seit 18 Monaten, ihr „Meldscore“, der Wert, der die Dringlichkeit der Transplantation auf der Liste der Kandidaten für ein Organ angibt, lag seit Wochen im kritischen Bereich. Ihr Mann fuhr sie ins Essener Klinikum, die beiden Söhne wurden per WhatsApp informiert. „Für mehr war keine Zeit.“ Auf dem Weg sei ihr eingefallen, dass sie ja gar kein Testament habe. „Ich hab dann irgendwas hingekritzelt“, erzählt Silke H., „weiß nicht, ob das rechtlich überhaupt Bestand hätte.“
Ein kurzes, „Tschüss, bis bald“ musste nach der Ankunft im Klinikum auch ihrem Mann reichen. Das achtköpfige Transplantationsteam um Chirurgin Arzu Özçelik wartete bereits auf die Patientin. Die Professorin für viszerale Transplantation erinnert sich noch genau an die sechsstündige OP. Nicht nur, weil es der Tag vor ihrem Geburtstag war. „Sowas“, sagt Özçelik, „ist nie ein Routineeingriff.“ Die Ärzte entnahmen Silke H. die eigene kaputte Leber und setzen ihr die einer Spenderin ein. „Wir hatten erst Sorgen, dass die neuen Organe zu groß waren“, sagt die Chirurgin. Aber sie passten prima: Im Silke H.s Bauch war mehr als genug Platz, die Zysten hatten ihn furchtbar „ausgeleiert. „Sechs Kilo wog die alte Leber“, berichtet H. – 1,2 wären normal für eine Frau wie sie. Die neue Niere packten die Ärzte in die Leiste der Patientin, die alten entfernten sie nicht. Am frühen Morgen des Rosenmontags war die OP beendet.
Die Spenderleber tat sich schwer im neuen Körper, wollte nicht funktionieren
Drei Wochen lang lag Silke H. anschließend auf der Intensivstation, viel länger als erwartet. Lediglich an die letzten beiden Tagen kann sie sich „klar erinnern“. Denn die Spenderleber tat sich zunächst schwer im neuen Körper, wollte nicht arbeiten. „Primäre Dysfunktion des Transplantats“ nennen Mediziner das. Bei Silke H. führte sie zusammen mit anderen Faktoren zu erheblicher Verwirrtheit, die ihre Familie sehr erschreckte. „Völlig normal“, sagt Prof. Özçelik.
Dieser Verwirrtheitszustand ginge „im weiteren Verlauf so gut wie immer komplett weg, wenn die Leber gut funktioniert“. Bei H. dauerte das allerdings. Als die neue Leber endlich anfing zu arbeiten, war H. bereits neu gelistet, für eine Retransplantation … „Ich hab davon nichts mitbekommen, kann mich auch nicht an Schmerzen erinnern“, sagt Silke H., „aber mein Mann und meine Söhne haben sehr gelitten. Vor allem, als dann auch noch die neue Niere in die Knie ging.“
Inzwischen arbeiten beide Spenderorgane gut. Drei weitere Wochen verbrachte die Patientin auf der Normalstation; wunderte sich dort irgendwann, dass der Besuch ausblieb: Corono-Lockdown. Auch den hatte sie „komplett verpasst“. Das Virus verhinderte zudem, dass gleich nach dem Klinikaufenthalt die übliche Reha folgte. „Zu gefährlich“, sagten die Ärzte.
Am 8. April entließ man die Patientin darum nach Hause. „Es war nicht schwer, auf die Beine zu kommen“, sagt sie heute. „Ich war sehr schnell wieder mobil.“ Ihr Mann hab sie allerdings „schwer gescheucht“, schon im Klinikum, später dann daheim in Mönchengladbach. Heute schafft sie es problemlos in den zweiten Stock, ohne aus der Puste zu kommen und „die komplette Runde um den Pudding“, fast fünf Kilometer. „Ich hab keine Wadenkrämpfe mehr, kein Kribbeln. Und der Bauch ist endlich weg. Ich kann mich wieder bücken, fühle mich nicht mehr wie ein Ballon mit Armen und Beinen.“ Vor der OP hatte sich Silke H. nicht einmal mehr die Schuhe zubinden können.
„Corona hilft mir: Die anderen müssen ja auch zuhause bleiben“
Und wo sie „gerade am Prahlen“ sei, schwärmt Silke H. weiter von ihrem neuen Leben: Sie dürfe jetzt sogar soviel trinken, wie sie wolle. Und „fast alles essen“. Als erstes habe sie sich tatsächlich einen „ganz wunderbaren“ Apfel vom Baum in ihrem Garten gepflückt. Frisches Obst hatte sie uns im Januar erzählt, vermisse sie am meisten. Für Dialyse-Patienten ist es – wie vieles andere – tabu. Arbeiten im Garten darf H. noch nicht. Sobald sie ihn betritt, muss sie zudem in „ein Ganzkörperkondom“ schlüpfen, die Infektgefahr ist noch zu groß. „Aber Blümchen pflücken und Gemüse ernten im Gewächshaus – geht!“
Sieben Tabletten schluckt sie morgens und weitere vier am Abend, um ein Abstoßen der Transplantate zu verhindern. Wie groß die Furcht davor sei? „Ich drück das weg, ich mach auf Vogel Strauß“, sagt Silke H. Sie würde gern wieder arbeiten, ist aber bis Ende des Monats noch krank geschrieben und weiß, dass das vernünftig ist. Auch wenn sie „nicht gedacht hätte, das es so lange dauert.“ Zu fremden Menschen muss sie Abstand halten.
„Es kommt kein Besuch, und ich besuche niemanden. Nicht einmal einkaufen gehe ich.“ Ihr Immunsystem würde das vielleicht noch nicht verkraften – aber auch das sei kein Problem: „Corona hilft mir. Die anderen müssen ja auch zuhause bleiben.“ Alle zwei Wochen muss Silke H. derzeit noch zum Arzt. Später sollen die Kontrolluntersuchungen halbjährlich erfolgen. „Wir wollen den Patienten ja ihr normales Leben wieder geben“, erklärt Prof. Özçelik. Silke H. kann es kaum erwarten, die erste Reise sei bereits in Planung. „Jetzt“, sagt sie, „erlauben wir uns das wieder, das Planen“.
Jeder dritte auf der Warteliste stirbt
Nun, da der Kleiderschrank ausgemistet und alle Schubladen aufgeräumt seien („die alten Klamotten passen wieder!“), traue sie sich sogar, die ewig liegen gebliebenen Renten-Unterlagen anzugehen. Vor der OP habe sie dafür keinen Atem gehabt. „Und es machte ja irgendwie auch wenig Sinn.“ Sie wusste: Jeder dritte, der auf eine Leber wartet, stirbt, während er wartet.
Auch interessant
Arzu Özçelik strahlt wie ihre Patientin, wenn sie die so reden hört. „Frau H. sieht 20 Jahre jünger aus, finde ich. Und es macht mich sehr glücklich, sie so zu sehen.“ Erst nach und nach, sagt Silke H. werde ihr wirklich bewusst, was passiert sei. Ihr neues Leben, manchmal fühlt es sich wohl noch unwirklich an, nach all den Jahren des Leidens. Über die Frau, deren Leber und Niere sie erhielt, weiß Silke H. nicht viel. Nur dass es eine 29-Jährige war, die an einer Hirnblutung starb. „Sie hatten wohl noch versucht sie zu reanimieren...“ Anfangs, sagt Silke H. habe sie viel an diese Frau gedacht. „Dass die ja jetzt nicht mehr da ist“, und wie das wohl für ihre Angehörigen gewesen sein mag, an ihrem Sterbetag.
Silke H. würde ihnen gern „Dankeschön“ sagen.
>>>Die Organspende-Reform
Anfang des Jahres wurde die Organspende in Deutschland reformiert. Der Bundestag entschied sich gegen eine „Widerspruchslösung“. Er beschloss, dass einer Spende weiterhin aktiv zugestimmt werden muss, diese Zustimmung aber erleichtert werden soll.
Die Gesetzesänderung habe bislang nichts bewirkt, sagt Dr. Ebru Yildiz, Transplantationsbeauftragte des Essener Uniklinikums. „Und ich fürchte, wir werden davon auch nichts merken.“
Etwa 9.000 Menschen stehen derzeit in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. 932 Menschen spendeten im vergangenen Jahr ihre Organe.