Essen. Seit 500 Tagen wartet Silke H. (51) auf eine neue Leber und eine neue Niere, drei Nächte pro Woche hängt sie an der Dialyse. Ein Leben auf Abruf.
Wenn sie wieder daheim ist nach der Transplantation, wenn sie mit einer neuen Leber und einer neuen, gesunden Niere das Essener Uniklinikum verlassen haben wird, dann wird Silke H. als erstes eines tun: einen frischen, saftigen Apfel essen. „Einfach so. Reinbeißen und nicht drüber nachdenken“, seufzt sie. Wie lange die 51-Jährige aus Mönchengladbach auf diesen Moment noch warten muss, weiß sie nicht. Tatsächlich weiß sie nicht einmal, ob er überhaupt jemals kommen wird.
Was sie weiß, ist: Jeder dritte Patient stirbt, während er auf ein Spender-Organ wartet.
„Ich fürchte, die Widerspruchslösung wird sich nicht durchsetzen“
In Deutschland gibt es sehr viel weniger Spender als in anderen europäischen Ländern. Die Bundesregierung will das ändern, am Donnerstag entscheidet der Bundestag über eine Gesetzesreform. Zur Abstimmung stehen verschiedene konkurrierende Entwürfe: Widerspruchs- bzw. Zustimmungslösung sind die wichtigsten. „Egal, wie die Entscheidung fällt, wichtig ist, dass die Menschen sich mit dem Thema auseinander setzen, sich entscheiden“, glaubt Dr. Ebru Yildiz, Transplantationsbeauftragte des Universitätsklinikums Essen. Die doppelte Widerspruchslösung – der Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn – wäre ihre Wunschvariante. „Aber ich fürchte, sie wird sich nicht durchsetzen“.
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Silke H., wird die Debatte verfolgen – und ebenfalls hoffen, dass sich überhaupt irgendetwas ändert, dass mehr Menschen über Organspende wenigstens nachdenken. „Es würde vielen helfen“, sagt die Mutter zweier Söhne leise. „Für mich gibt es keine Alternative.“ Den eigenen Spenderausweis unterschrieb sie mit 17. „Vielleicht“, räumt sie ein, „war der Grund dafür nur, dass in der Krankenhaus-Verwaltung, wo ich arbeitete, überall welche rumlagen.“
Mit 25 erhielt Silke H. die Diagnose: Polyzystische Leber - und Nierenerkrankung
Silke H. war 25, als sie erfuhr, dass sie an einer Polyzystischen Leber- und Nierenerkrankung litt, einer schweren, genetisch bedingten Erkrankung. Ihre Mutter starb mit 50 daran. „In Leber und Nieren wachsen Zysten, bis sie nur noch aus Zysten bestehen“, erklärt Arzu Özçelik das Krankheitsbild. Sie ist Professorin für Viszerale Transplantation an der Uni Duisburg-Essen und Leiterin des Bereichs Leberlebendspende am Uniklinikum. Anfangs sei die Funktion der Organe oft kaum beeinträchtigt, später bestünden manche Patienten „nur noch aus Leber, können sich kaum noch bewegen, kein normales Leben führen“.
„Sie werden ihre Taille verlieren, sagte mir der Arzt damals“, erinnert sich Silke H. Mit 30 fing sie – eine schmale, zarte Person – an zuzulegen um die Körpermitte. „Heute stehen die Jugendlichen im Bus für mich auf“, erzählt H.; weil sie denken, die 51-Jährige sei schwanger, so groß ist inzwischen der Bauch, den sie vor sich herschiebt. Arme und Beine dagegen sind noch viel dünner als zuvor, es fehlt ihnen an Muskeln. Laufen, springen, Sport treiben – geht nicht mehr. Selbst Schuhe zuzubinden ist Silke H. längst unmöglich.
Drei Nächte pro Woche hängt sie an der Blutwäsche
Als sie 40 wurde, verschlechterte sich ihr Allgemeinzustand dramatisch. „Alle 14 Tage hatte ich sowas wie eine Grippe oder eine Nierenbeckenentzündung, dazu kamen Darmverschlüsse, Haarausfall und fürchterliche Wadenkrämpfe.“ In so mancher Nacht habe sie wach gelegen und gegrübelt, was wird, sagt sie. Das Schlimmste sei dabei die Sorge um ihre Kinder gewesen, dass sie die beiden Söhne womöglich „auf halbmast hängen lassen“ müsste. Silke H. ist eine tapfere Frau; aber wenn sie über diese Zeit spricht, fließen Tränen. „Sonst lebe ich das nicht so aus“, erklärt sie. Seit sie zur Dialyse ginge, gehe es ihr ja auch besser. Und das klingt wie eine Entschuldigung.
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Seit Februar vergangenen Jahres ist H. dialysepflichtig: Die Zysten haben ihre Nieren fast zerstört. Drei Nächte in der Woche hängt sie an der Blutwäsche, von 22 Uhr bis morgen halb sieben. Sie schläft dafür in der Dialyse-Einrichtung. Versucht es zumindest. „Man richtet sich ein“, sagt sie, lerne die Geräusche der anderen Patienten im Raum und die der Maschinen auszublenden. So wie sie sich „einrichtete“ mit völlig neuer Kost: Frisches Obst, Gemüse, Vollkorn und Salz sind für Dialyse-Patienten so gut wie tabu; ein Liter Flüssigkeit pro Tag das Maximum. Und dabei seien die Paprika und Tomaten, die sie in ihrem Gewächshaus daheim in Mönchengladbach selbst zieht, in diesem Jahr doch besonders gut gediehen… Verreisen, sagt H., sei grundsätzlich möglich, auch als Dialyse-Patient. Sie träumt davon. Aber beim ersten Versuch, einen Urlaub mit der Familie zu organisieren, „ging uns rasch die Luft aus“.
Die Tasche ist gepackt, das Telefon immer in der Nähe
Silke H. arbeitet nach wie vor in der Verwaltung einer Mönchengladbacher Klinik, doch sie hat ihre Stundenzahl reduziert. Der Bauch macht auch dem Rücken zu schaffen, langes Stehen bereitet ihr Schmerzen. Elf Tabletten muss sie täglich schlucken, einmal in der Woche bekommt sie eine Spritze gegen Eisenmangel-Erscheinungen. Den Sommerurlaub verbrachte sie mit Arztterminen. Irgendwann bald, auch damit hat sie sich abgefunden, wird ihr Kopf kahl sein. Perücken hat sie schon probiert, gefallen hat ihr keine.
Seit gut 500 Tagen ist Silke H. nun „gelistet“, steht sie auf der Liste derjenigen, die auf ein Spenderorgan warten. Nur eine Transplantation kann ihr noch helfen. Und gleich bei den ersten Tests im Essener Uniklinikum stellte sich heraus: Silke H. braucht nicht nur eine neue Niere, sondern auch eine neue Leber. Ihr Mann, sagt sie, habe ihr eine seiner Nieren spenden wollen, aber dafür war es bereits zu spät. In dieser Woche wurde ihr (Exceptional) „Meld-Score“ auf 26 aktualisiert. Der bestimmt die Schwere einer Erkrankung und damit die Dringlichkeit der Transplantation. Ein Wert von 26 heißt: Es eilt! „Ich hab meine Tasche gepackt“, sagt die 51-Jährige. Zuhause bleibe sie in der Nähe des Telefons, ohne Handy gehe sie nicht mehr aus dem Haus, und sie achte strikt darauf, den Akku stets rechtzeitig aufzuladen. Sie fürchtet sich vor der schwierigen OP, die wenigstens sechs Stunden dauern wird. Aber: „Wenn der Anruf kommt, will ich ihn nicht verpassen“, sagt H.
Chirurgin: Es macht wütend dem Sterben zuzusehen, ohne helfen zu können
Ihre Chirurgin Arzu Özçelik ahnt, welche Belastung das Warten, die Ungewissheit für ihre Patientin bedeutet. Und sie würde sie lieber heute als morgen operieren. „Denn noch ist Frau H. in gutem Zustand.“ Je kränker ein Patient sei, desto höher das Risiko. In anderen Ländern würde viel früher transplantiert – „und da beobachten wir ganz andere, bessere Verläufe“. Es mache sie wütend, sagt sie, am Bett eines Patienten zu stehen, dem zu helfen nicht in ihrer Macht stehe. An eine junge Frau erinnert sie sich, die mit akutem Leberversagen zu ihr kam und starb – und wie hilflos sie als Ärztin sich damals fühlte. „Ich dachte, dass kann doch nicht sein, dass dieser junger Mensch jetzt stirbt, weil es kein Organ für ihn gibt.“
Ginge es um Chemotherapeutika für Krebskranke, sagt Ebru Yildiz, die Transplantationsbeauftragte, würde man doch auch handeln, wenn die nicht für alle reichten.“ Beide Ärztinnen wissen, dass die negativen Schlagzeilen der letzten Jahre, dass die Organspende-Skandale in Göttingen und der Prozess gegen den Essener „Leber-Papst“ Broelsch mit dafür verantwortlich sind, dass die Spendenbereitschaft in Deutschland niedriger ist als etwa in Spanien,. „Aber wir müssen daran arbeiten“, sagt Özçelik.
Allein die Debatte vor der Entscheidung im Bundestag bewirkt schon etwas
Es gebe noch immer zu wenig Aufklärung, glaubt Yildiz. Oder zu komplexe. Zusammen mit der AOK Rheinland hat sie daher eine kompakte „Entscheidungshilfe“ erarbeitet: „Die wichtigsten Fragen und Antworten kurz und knapp“. Ab Februar wird sie online zu finden sein. Allerdings zeitige die Debatte, die der Entscheidung im Bundestag voranging, bereits erste Erfolge, findet Yildiz: Als sie in dieser Woche die Angehörigen eines potenziellen Spenders, der im Klinikum gestorben war, um eine Entscheidung bat, „kam die unerwartet und erfreulich prompt. Sie hatten nach einer Fernsehsendung gerade erst über das Thema diskutiert, sie kannten seinen Willen“. Der im Übrigen nicht zur Entnahme der Organe führte, der Patient hatte sich vor seinem Tod gegen eine Spende ausgesprochen.
„Ich akzeptiere das. Ich kann jeden gut verstehen, der gegen die Organspende ist“, sagt Silke H., ohne Bitterkeit in der Stimme. Doch sie hofft auf einen Menschen, der anders entscheidet – und das kundtut vor seinem Tod. Denn sie vermisst sie sehr, ihre geliebten frischen Äpfel.
>>> Info: Organspende in Zahlen
Am Montag hat die DSO, die Deutsche Stiftung Organtransplantation Zahlen veröffentlicht: Sie zählte 2019 bundesweit 932 Organspender. Im Vorjahr waren es 955.
Rund 9.500 Menschen stehen derzeit auf der Warteliste für eine Organtransplantation, die meisten von ihnen warten auf eine Niere.
Im Uniklinikum (UK) Essen sind den jüngsten vorliegenden Zahlen zufolge 2 018 insgesamt 183 Organe transplantiert worden: 68 Nieren (postmortal), 21 als Lebendspende; eine Bauchspeicheldrüse (Pankreas); 37 Lebern (postmortal), 8 als Lebendspende; 4 Herzen sowie 44 Lungen.
Sehr viel mehr kranke Menschen gingen „leer“ aus. Für sie fand sich (noch) kein Spender-Organ. Die Zahlen auf der Essener Warteliste im einzelnen: Niere/546; Pankreas/11; Leber/151; Herz/27; Lunge/28.
15 Menschen spendeten im UK Essen im vergangenen Jahr Organe – mehr waren es seit 2014 nie.