Rheda-Wiedenbrück. Der Kreis Gütersloh muss erneut in den Lockdown. Viele Menschen dort sagen: Er kam zu spät. Und: Die Probleme bei Tönnies waren lange bekannt.

Der schattige Biergarten der „Remise“: trotz makellos blauen Himmels und 27 Grad – verwaist: im Schnellrestaurant „Viet Thai“ nebenan: haben sie die Sonnenschirme gar nicht erst ausgeklappt; und im Eiscafé Venezia drei Schritte weiter: ebenfalls gähnende Leere. Rheda-Wiedenbrück macht dicht, geht zurück „auf März“. Am Morgen ordnete Armin Laschet für den Kreis Gütersloh, deren zweitgrößte Stadt die knapp 50.000 Einwohner zählende Gemeinde ist, erneut den Lockdown an. Fast 1600 Mitarbeiter des Schlachtbetriebs Tönnies waren bis dahin positiv auf Covid-19 getestet worden.


Edith Berning hörte die Nachricht im Radio: „Ein echter Schock“, sagt die Rentnerin, obwohl sie mit dem erneuten Lockdown gerechnet hätte. „Das muss jetzt sein und wir werden auch noch eine ganze Weile damit leben müssen. Wir sind es doch schon gewohnt“, tröstet sie Ehemann Heinrich. Sauer ist er nur auf die „Repräsentanten von Stadt und Kreis“: „Die machen sich hier einen flinken Schuh, die wussten doch schon lange, was da bei Tönnies los ist.“ Letzteres hört man öfter in der Stadt, das Ehepaar bringt auf den Punkt, was wohl viele hier in Rheda-Wiedenbrück, womöglich im ganzen Kreis Gütersloh empfinden: ein wenig Wut, viel Frust, aber auch Verständnis für die Entscheidung, die meisten Lockerungen der hohen Infektionszahlen wegen wieder zurückzunehmen. Bei über 250, dem Fünffachen des Grenzwerts von 50 lag die Neuerkrankungsrate zuletzt.

370.000 Menschen sind vom Lockdown betroffen

Nette Gassen, kaum Menschen: In Rheda-Wiedenbrück bleiben die Menschen derzeit wieder zuhause – um eine weitere Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern.
Nette Gassen, kaum Menschen: In Rheda-Wiedenbrück bleiben die Menschen derzeit wieder zuhause – um eine weitere Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen


370.000 Menschen sind vom erneuten Lockdown betroffen. „Begeistert“ ist davon hier niemand. Richtig finden ihn die meisten, zu spät fast alle, die wir danach fragen. „Die Tönnies-Mitarbeiter müssen auch einkaufen, die waren doch überall unterwegs bis vor kurzem“, erklärt Xhvit Hoti. Die Menschen in der Stadt seien „längst im freiwilligen Lockdown“, Tag für Tag sei es in der letzten Woche leerer geworden auf Spielplätzen und in den Cafés. Hoti stammt aus dem Kosovo, spricht „alle Balkansprachen“ und dolmetscht nach eigenen Angaben oft für Polizei und Behörden. Er erkrankte vor Wochen schon an dem Virus. „War nicht schlimm“, sagt er. „Geht vorbei.“

Andere – wie Sabrina Waldhaus – fühlen sich inzwischen „wie Aussätzige“. „Die ganze Welt zeigt mit dem Finger auf uns“, glaubt die Inhaberin eines Second-Hand-Geschäfts für Kindermode und -möbel in Rhedas Fußgängerzone. Tatsächlich habe man ihrer Tochter auf der Autobahn bereits „den Stinkefinger“ gezeigt, „nur weil sie mit GT-Kennzeichen unterwegs war“, bestätigt Inge Kalleweit, eine Bekannte, die gerade vorbei kommt. Sabrina Waldhaus kennt Clemens Tönnies persönlich, wie viele hier in Rheda-Wiedenbrück, wo die Tönnies-Holding ihren Firmensitz hat. „Er hat mir bei den Schulaufgaben geholfen früher“, erinnert sie sie sich. Trotzdem sei sie mittlerweile „richtig sauer auf das Konzept seiner Firma.“

„Nun tun viele so, als sei ein Gewitter über uns gekommen“

Sabrina Waldhaus, Inhaberin eines Secondhand-Ladens für Kindermode in Rheda.-Wiedenbrück: „Ich fühle mich total allein gelassen“.
Sabrina Waldhaus, Inhaberin eines Secondhand-Ladens für Kindermode in Rheda.-Wiedenbrück: „Ich fühle mich total allein gelassen“. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen


Am meisten aber ärgere sie, dass die Lage so unübersichtlich sei. Am Samstag in drei Wochen soll es in die Toskana gehen, gebucht habe die Familie im Sommer vergangenen Jahres. Im März sagten die Eltern den Kinder „Das wird wohl nichts“, vor einem Monat „Es klappt wohl doch“. „Und nun bangen wir erneut um unsere Ferien.“ „Ich fühle mich komplett allein gelassen“, sagt Waldhaus. An diesem Morgen etwa sei zunächst nicht einmal klar gewesen, ob sie ihr Geschäft weiter offen halte dürfe. Es dauerte, bis sie erleichtert herausfand: Sie darf. „Ich wünschte mir“, sagt Waldhaus, „dass man das vom Bürgermeister hört und nicht aus der Nachbarschaft.“

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Christopher Onkelbach
Von Christopher Onkelbach


Klaus Bartscher und Reiner Neuhoff sitzen beim Bier auf dem Doktorplatz ganz in der Nähe; auch dieser: bis auf die beiden Herren: menschenleer. Jahrelang erzählen die zwei, Architekt der eine, Ex-Politiker der andere, „haben wir für dafür gekämpft, dass dieser Platz hübsch gemacht wird.“ Jetzt ist er hübsch, am 1. Mai wurde er neu eröffnet. „Und nun kommt niemand her, das ist total schade“, findet Bartscher, der acht Jahre für die Grünen im Stadtrat saß. „Die Probleme bei Tönnies waren lange bekannt“, sagt er. „Und nun tun viele so, als seien sie wie ein Gewitter über uns gekommen.“ Auch Reiner Neuhoff, der Architekt, betont, es sei nicht richtig, „dass nun alle auf Tönnies einschlagen“. Der trage nur eine Mitschuld, die Fleischindustrie „liegt europaweit im Argen“.

Bei allem Schlimmen, sagt Bartscher zum Abschied, habe die ganze Sache nur ein Gutes: „Rheda-Wiedenbrück kennt man jetzt. Von Anchorage bis Wladiwostock!“