Ruhrgebiet. Das Abitur in der Corona-Krise war anders, aber Feiern sind nun doch erlaubt. Schulen verteilen Zeugnisse in Schichten, im Kino – oder im Zirkus.
Der letzte Schultag ist unbemerkt verstrichen, die Mottowoche ausgefallen, der Abiball abgesagt. Aber ganz ohne Entlassungsfeier gehen die 88.000 Abiturienten des Corona-Jahrgangs 2020 in NRW nun doch nicht in die Zukunft. Die ersten bekommen schon in dieser Woche ihre Zeugnisse: mit Eltern, aber ohne Lehrer, im Autokino – oder im Zirkus.
Bei Einfahrt Sekt, bei Ausfahrt Zeugnis. So machen sie das im Autokino in Rheinbach, anderswo wird der Beleg der Allgemeinen Hochschulreife auf Stapeln liegen oder mit Maske und Handschuh überreicht. Der Sekt fällt aus, etwa an der Gelsenkirchener Gesamtschule Berger Feld und auch in Gießen, wo sich eine Zeitung zu einem hoffentlich falschen Bild hinreißen ließ: „Statt Sektempfang Desinfektionsmittel“. Jedenfalls werden die Abifeiern 2020 – anders.
Zwölf Jahre Schulleben ohne Abschluss – das wäre „schade“
Was besser ist als gar nicht. Vor wenigen Wochen noch, da saßen die Abschlussklassen in ihren ohnehin schon seltsamen Prüfungen, glaubten viele Schüler gar nicht mehr an ein würdevolles Ende ihres Schullebens: „Wäre schade“, sagten Maren Katharina Naudszus und Anna Kimmeskamp vom Elsa-Brandström-Gymnasium in Oberhausen, „wenn das Kapitel nach zwölf Jahren einfach so zugemacht wird.“ Schon hatten sie den Traum aufgegeben vom Gang auf die Bühne, von stolzen Eltern in der Aula: „Ich habe immer gedacht, später stehe ich selbst da vorne als Abiturientin“, sagte Alexandra Rudi vom örtlichen Bertha-von-Suttner-Gymnasium. „Jetzt ist es traurig, dass uns der ganze Spaß weggenommen wurde.“
Doch dann kam doch noch dieser Erlass aus Düsseldorf: „Schulische Veranstaltungen zur Ausgabe von Zeugnissen oder Entlassung von Abschlussjahrgängen“, schrieb Schulministerin Yvonne Gebauer am 5. Juni, „sollen den Schülerinnen und Schülern und den ihnen Nahestehenden einen Abschied von der Schulzeit ermöglichen, der als positive Erinnerung verbleibt.“
Schulleitungen in Sorge: Zeugnisse nur per Post?
Zwar dürften solche Veranstaltungen „aus Gründen des Infektionsschutzes keinen überwiegend geselligen Charakter haben“, es gälten Corona-Verordnungen und der übliche Abstand. „Dem muss die Schulleitung durch zeitversetzte, gruppenbezogene Termine Rechnung tragen.“ Weshalb diese Schulleitungen – eben noch in Sorge, Zeugnisse per Post verschicken zu müssen – in Windeseile Raum- und Ablaufpläne erfanden.
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Drei Schichten, drei Personen, drei Stühle pro Abiturient. In Dortmund lässt das Max-Planck-Gymnasium die Absolventen leistungskursweise in die Aula, für Publikum wird die Entlassung per Video übertragen. Das Reinoldus- und Schiller-Gymnasium verlegt die Feier bei schlechtem Wetter in die Sporthalle, aber „bitte keine Stöckelschuhe“. Auch Velberts Nikolaus-Ehlen-Gymnasium zieht in die Halle um, aber nur mit den gut 100 Schülern: Für Eltern ist nicht auch noch Platz. Auch das Heinrich-Heine-Gymnasium in Bottrop begeht den feierlichen Schulabschluss auf einer Wiese lieber ohne Eltern. Das „Bertha“ in Oberhausen feiert in vier Gruppen „auf dem Schulhof hinten“, die „Wolfskuhle“ in Essen auf festen Plätzen und in zwei Schichten in der Aula, Lehrer müssen sich anmelden.
„Hygiene ist wichtiger als volles Haus“
An Dortmunds Stadtgymnasium darf das Kollegium lieber gar nicht kommen; es gibt zwei Durchgänge, zwischendurch wird die Aula gelüftet, die Plätze werden anders besetzt. Alles andere würde „die Abstandsregeln grob verletzen“, sagt Schulleiter Bernhard Koolen. „Hygiene ist wichtiger als volles Haus.“ Die Zeugnisse werden auf einen „Gabentisch“ gelegt, das machen sie auch an der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen so. Auch dort haben sie genau gerechnet: 70 Schüler plus zwei Begleiter mal 1,50 Meter Abstand – das passt ins Forum, danach aber soll „jeder möglichst schnell nach draußen“, sagt Schulleiterin Maike Selter-Beer. Dort sei genug Platz, falls sich jemand bei den Lehrern bedanken wolle.
Eine Gelegenheit, um das Kleid für den Abiball doch noch zu tragen
Die Gesamtschule Hattingen feiert gleich fünfmal, für jeden Leistungskurs extra, dafür wird das Zeugnis mit Maske übergeben. Alles soll „so persönlich wie möglich“ sein, sagt Eleonora Micieli vom Beratungslehrerteam der Oberstufe. Ähnlich verfährt das Hattinger Gymnasium Waldstraße. Dort will man den Schülern Gelegenheit geben, die festlichen Kleider zu tragen, die sich viele schon vor Corona zugelegt haben. Und dort Abschied zu nehmen, wie die scheidende stellvertretende Schulleiterin Cornelia Bering sagt, „wo sie zuvor jahrelang für ihr Abitur gelernt haben“.
Viele Schulen aber wollen auf gutes Wetter nicht vertrauen oder haben schlicht keine Aula, die groß genug wäre für bis zu 100 Abiturienten. Weshalb die Schulen ausweichen an die tollsten Orte: Gelsenkirchens Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium zieht für die Entlassungsfeier um ins Zelt und in die Manege des Circus Probst, der in der Stadt gastiert. Die Gesamtschule Horst ins Amphitheater des Nordsternparks. Oder das Mariengymnasium in Werl in den örtlichen Kurpark: vier Termine, für jede Familie eine eigene Bank.
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Der Trend der Krise aber ist das Autokino. Hochzeiten, Erstkommunion, es wurde alles schon gefeiert in diesen Monaten, und jetzt also Abi: das Gymnasium Holthausen in Hattingen im Autokino an der Henrichshütte, die Willy-Brandt-Gesamtschule aus Mülheim und drei Essener Gymnasien im Autokino am Flughafen Essen/Mülheim, Wittens Hardenstein-Gesamtschule im Autokino am Kemnader See, und auch das Bottroper Berufskolleg geht ins Kino. Velbert zwar hat kein eigenes Autokino, aber die Abiturientia des Geschwister-Scholl-Gymnasiums tut so als ob: Jeder Schüler (77) darf mit einem Auto auf dem Schulhof vorfahren, aus der Aula wird der Flügel auf eine provisorische Bühne gerollt.
Elf Abiturienten möchten lieber nicht ins Autokino
Indes sagt nicht jeder im Ruhrgebiet zum Autokino Au ja!. „Am Ende der Schullaufbahn“, findet die Hattinger Lehrerin Eleonora Micieli, „muss man sich einfach noch mal in die Augen sehen können. Ohne dass ein Auto dazwischen ist.“ Schulleiter Thorsten Köhne vom Gymnasium Holthausen muss die Entlassung sogar zweimal feiern: Elf Abiturienten möchten ihre Zeugnisse lieber in der Schulaula überreicht bekommen, eine Schülerin holt sich ihres sogar außerhalb der Feiern ab. Dabei hätte Köhne sich gewünscht, dass „alle unsere Abiturienten dabei gewesen wären“.