Ruhrgebiet. Gemeinsames Singen ist in Corona-Zeiten verboten: Weil die Ansteckungsgefahr hoch ist, proben viele Chöre via Internet – aber das klingt nicht.
Singen ist gesund. Das ist erwiesen: gut für die Atemwege, für das Immunsystem, fürs Gemüt. Allein, weil die neue Krankheit Covid-19 über die Atemluft verbreitet wird, ist das plötzlich alles nicht mehr wahr, gilt gerade gemeinsames Singen als gefährlich. Chor-Proben sind und bleiben deshalb verboten, Auftritte desgleichen – und doch hat Corona nicht alle Chöre zum Schweigen gebracht.
[Update, Mittwoch, 20.20 Uhr: Chöre und Orchester in NRW dürfen unter Auflagen ab Donnerstag wieder proben. Doch die Regeln haben es in sich: 10 Quadratmeter pro Person, drei Meter Abstand von Sängern, die nebeneinander stehen, sechs Meter Abstand in Stoßrichtung des Atems. Damit sind die klassischen Chorproben im Vereinszimmer der örtlichen Gaststätte nicht möglich.]
Ob sie sich beim Singen ansteckten, in der Probenpause oder beim Plaudern danach? Jedenfalls gibt es diese drei Geschichten, die sich Chorsänger in diesen Tagen erzählen: vom Gospelchor in den USA, wo noch 60 von 120 Sängern zur Probe erschienen, und danach waren 40 krank und zwei tot. Vom Gemischten Chor in Amsterdam, der im Concertgebouw die Johannes-Passion aufführte und danach von 130 Sängern 102 Infizierte zählte; vier, zum Teil Angehörige, starben. Von der Berliner Domkantorei, die kerngesund noch probte – und dann waren 60 von 80 Sängern positiv.
Und das alles geschah schon Anfang März, noch bevor Corona auch Chöre in die „Corontäne“ zwang, wie manche trotzdem noch scherzen.
Coronaschutzverordnung verbietet Live-Proben von Sängern und Bläsern
Beim Chorverband NRW in Dortmund laufen seit dem Lockdown die Drähte heiß: Die fast 2500 dort organisierten Chöre wollen wissen, ob und wann sie wieder singen dürfen und unter welchen Bedingungen. Abstand, schlug man dort vor, regelmäßiges Lüften, Abkürzen der Proben auf maximal 45 Minuten… Doch in der Erweiterung der Coronaschutzverordnung vom 7. Mai hat das Gesundheitsministerium selbst den an die 200.000 Sängern im Land die Tür zum Probenraum zugeschlagen: In Paragraf 8 Kultur heißt es, Konzerte und Aufführungen in geschlossenen Räumen seien „bis auf weiteres untersagt“. Die Proben dazu „in atmungsaktiven Fächern (insbesondere Gesang...) dürfen bis auf weiteres nicht in Gruppen (Chor, Ensemble, Orchester) durchgeführt werden“.
Das Problem: Beim gemeinsamen Singen kommen nicht nur mehr Menschen zusammen als erlaubt, sie atmen sich auch noch gegenseitig an, manchmal mehrere Stunden lang. Sie stehen dabei nah beieinander, denn sie sollen ja aufeinander hören, dazu schauen sie vielleicht ins Notenblatt des Nachbarn. Noch ist sich die Wissenschaft nicht ganz einig, stehen entsprechende Studien noch am Anfang, aber klar ist: Das Ansteckungsrisiko bei Chorproben ist hoch. Das liegt vor allem an den sogenannten Aerosolen, jenen unsichtbaren Atemwölkchen, in denen Tröpfchen eben nicht gleich auf den Boden fallen, sondern sich in der Raumluft munter mischen wie die Töne. Eine Viertelstunde nur dauert es angeblich, bis ein Probenraum, im Ruhrgebiet oft Gemeindesaal oder Hinterzimmer einer Kneipe, erfüllt ist von womöglich infektiösen Schwebeteilchen.
Wissenschaftler: „Singen im Chor ist gefährlich“
„Aus diesen Gründen sollten Chorproben bis auf weiteres nicht erfolgen“, erklärte die Musikhochschule Freiburg in einer ersten Risikoeinschätzung schon Anfang April. Bereits in kleinen Chorformationen von mehr als fünf Sängern sei davon auszugehen, „dass sich das Infektionsrisiko durch die im Raum befindliche Durchmischung (...) potenziert“. Oder, wie Prof. Michael Fuchs, Leiter der Abteilung Phoniatrie an der Uniklinik Leipzig, schlicht sagt: „Singen im Chor ist gefährlich.“
Zwar haben Tests mit Sängern, Orchestern und vor allem Blasmusikern inzwischen auch ergeben, dass die Atemluft gar nicht weiter als zwei Meter „fliegt“. Allerdings maßen die Experten vor allem die Luftströme der Vokale. Und ein Sänger formt nicht allein A, E, I, O, U. Er will, dass auch sein Text verstanden wird, weshalb noch jeder Chor beim Einsingen die Konsonanten übt: „P, T, K, F, S, Sch“, wer das ausspricht, erfährt, dass er dabei spuckt.
„We are the World“ in der Zuhause-Version
Was also tun? Der Sänger will singen, weshalb auch er macht, was gerade viele versuchen: Er geht ins Internet. Wunderbare Aufnahmen sind schon entstanden, als ein jeder Sänger sich selbst filmte in Bild und Ton, im eigenen Wohnzimmer oder im Garten, was technisch Versierte zusammenschnitten. Zuerst kamen solche Bild-Combos aus Italien, inzwischen singen sie zusammen getrennt von Australien bis Island, von Salt Lake City bis Essen: Hier nahmen die Domsingknaben schon vor Ostern „Crux Ave“ auf, in Dortmund sang die „Vocal Crew“ den „Best Day of my Life“ ein, und die Deutsche Chorjugend mit über 1000 Sängern das eigens geschriebene Lied zur Krise, „Zusammen singen wir stärker“. Von überall zeigen Rundfunkchöre in bunten Bildchen ihr Können, es gibt eine „Home Edition“ von „We are the World“, bald Beethovens „Ode an die Freude“, gesungen vom „Größten Chor im Westen“ auf Initiative des Chorverbands NRW – und von den Berliner „Happy Disharmonists“, wie passend, den Hit „Küssen verboten“.
Stimmen bleiben im Internet hängen: Latenz verhindert gemeinsamen Klang
Nur, wie proben die das alles? Ein jeder für sich allein oder digital. Der Chorverband NRW rät sogar dazu, hilft bei der Umsetzung. „Auch wenn sich damit sicherlich nicht alle Chormitglieder erreichen lassen“, ahnt auch der Verband Deutscher Konzertchöre, „so entsteht dennoch Kontakt und somit Kommunikation.“ Vielerorts treffen sich die Sänger zu den gewohnten Probenzeiten mit einem Videosystem, wenigstens das Gemeinschaftsgefühl bleibt so am Leben. Aber viele Chöre scheitern an der Technik, was nicht an ihnen liegt.
In Dortmund stimmte ein Chor in einer seiner ersten Online-Proben spontan das Stück „Happy Together“ an. Das passte zur Stimmung, die Mikros blieben vorsichtshalber zu, denn schnell merkten die Teilnehmer: Sie waren zwar „happy“, aber nicht zusammen. Unterschiedliche Internet-Geschwindigkeit, die sogenannte Latenz, sorgt dafür, dass jeder zu einer anderen Zeit glücklich ist. Das ist lustig, aber nicht schön anzuhören. Die Videokonferenz, die das Problem vermeidet, muss noch erfunden und bezahlbar werden.
„Keine richtige Probe“
„Es ist keine richtige Probe“, sagt denn auch der Chorleiter Daniel Posdziech, der unter anderem den Kammerchor Kettwig leitet. „Weil wir nicht zusammen singen.“ Da Ton und Bild nicht passen, ist der 33-Jährige dazu übergegangen, Partien einzuspielen, im Audio zu erklären: „Meine Sänger schauen ohnehin in die Noten, warum sollen die mich am Klavier sitzen sehen.“ Auch Einsing-Übungen hat Posdziech verschickt, und doch: Er kann nicht eingreifen, er hört ja seinen Chor nicht. „Das ist ungewohnt, wir singen in eine Blackbox.“
Was das mit dem Chorklang macht? Das ist eine der Fragen: Wie klingt am Ende ein Chor, der monatelang nur als virtuelle Versammlung von Solisten geübt hat? Dessen Leiter seine Sänger nur singen gesehen, aber nicht gehört hat? Allerdings muss das Publikum das vorerst nicht fürchten, es ist ja auch ein Ende des Auftrittverbots nicht absehbar. So lange hat eine Dirigentin im Schwäbischen etwas ganz Neues erfunden: Sie probt per Rundfunkfrequenz, die Chormitglieder singen im Auto. Wenn sie genau hinhört (was Chorleiter können sollten), dann hört sie den Gesang aus den offenen Fenstern...