Oer-Erkenschwick. Überfüllte Unterkünfte sollen Corona-Infektionen befördern. Westfleisch spricht von Wohngemeinschaften. Experten zeichnen ein anderes Bild.

Peter Kossen hat es kommen sehen. Schon zu Beginn der Corona-Krise im März warnte der Pfarrer aus dem Bistum Münster, dass die Arbeiter an Schlachthöfen besonders gefährdet seien. Seit Jahren protestiert er mit dem Verein „Aktion Würde & Gerechtigkeit“ gegen die aus seiner Sicht heillosen Arbeits- und Wohnbedingungen der Werkarbeiter aus Osteuropa. Weil auch in Corona-Zeiten „noch immer“ Sammelunterkünfte überbelegt und die Kleinbusse zum Arbeitsplatz vollgestopft seien, weil die Menschen überarbeitet und geschwächt seien, warnte Kossen am 24. April erneut, diesmal in einem Brief an NRW-Gesundheitsminister Laumann, vor einer Ausbreitung des Virus in Schlachthöfen und vielen schweren Krankheitsverläufen. Eine Woche später bestätigte sich der erste Teil seiner Warnung.

Doch wie leben die Arbeiter wirklich? Und falls furchtbar, warum?

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Im Bochumer Schlachthof (Willms Fleisch) mit seinen 360 Angestellten gibt es mindestens 25 Corona-Fälle, trotzdem wird weiter geschlachtet. In Gelsenkirchen sind die Tests wie an vielen weiteren Schlachthöfen noch nicht abgeschlossen. Ausgelöst hatten sie zwei betroffene Standorte von Westfleisch: Während in Coesfeld das Schlachten aufgrund von mindestens 250 Corona-Fällen ruht, läuft der Betrieb in Oer-Erkenschwick trotz 33 Infektionen weiter. Die Mitarbeiter trügen Masken und, wo sie dicht an dicht arbeiten müssen, spezielle Schutzmasken, teilte das Unternehmen mit. Es gebe unter anderem Fiebermessungen am Tor, Arbeit in Kleingruppen und mehrsprachige Hygienehinweise. Westfleisch unterhalte keine Sammelunterkünfte. „Im Allgemeinen ist die Unterbringung der Produktionsmitarbeiter der von Familien und Wohngemeinschaften ähnlich. Mehrheitlich sind Wohnungen mit drei, vier oder fünf Personen belegt.“

Die Begehungen sind angekündigt

Bei Westfleisch in Coesfeld ruht der Betrieb.
Bei Westfleisch in Coesfeld ruht der Betrieb. © dpa | Marcel Kusch

Wie es beim Rest aussieht, wird der Kreis Recklinghausen womöglich ab dieser Woche herausfinden, wenn das Gesundheitsamt mit seinen angekündigten Begehungen in und um Oer-Erkenschwick beginnt. Eine „Kultur wegzugucken“ habe es vielleicht an manchen Orten gegeben, hat NRW-Gesundheitsminister Karl Laumann (CDU) am Montag im Deutschlandfunk erklärt. Er habe „kein großes Vertrauen“ in die Arbeitsbedingungen der Schlachtindustrie.

Das fehlt vielen Beobachtern. „Man muss stark unterscheiden zwischen der Stammbelegschaft und den Werkarbeitern“, erklärt Andreas Singendonk, Sekretär der Gewerkschaft NGG (Nahrung-Genuss-Gaststätten) im Ruhrgebiet. Schlachten und Zerlegen, das Kerngeschäft also, erledigen in aller Regel nur noch die Werkarbeiter, die von Sub- oder Sub-Sub-Unternehmern im Ausland angeworben werden. Bei Westfleisch sollen nach eigenen Angaben ein knappes Drittel aller 5400 Konzernmitarbeiter mit Werkverträgen arbeiten. In der Produktion arbeiteten jedoch oft zwei Drittel Werkarbeiter, sagt Gewerkschafter Singendonk.

Corona-Gruselmasken aus Island

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    Wenn nun ein Unternehmen zum Beispiel 100.000 Schweine zur Schlachtung ausschreibt, ist der Preis fix. Der Subunternehmer oder eine mit ihm verbundene Firma stellt jedoch auch häufig die Wohnung. Und hier sind offenbar manche verführt, Kasse zu machen.

    „Ich habe etliche Wohnungen gesehen, in denen 20 Menschen leben und der Schimmel von der Decke fällt“, sagt Adrian Peter. Der Redaktionsleiter der SWR-Recherche-Unit deckt seit Jahren Missstände in der Branche auf. Der Schimmel ist wohl ein üblicher Nebeneffekt der krassen Überbelegung. 150 Euro pro Bett seien die Regel, erklärt Buchautor Peter („Die Fleischmafia“), manchmal auch 300 Euro. Wenn vier oder fünf Betten in jedes Zimmer gepfercht werden, kann man sich den Gewinn ausrechnen.

    „Ausgeprägte Schimmelbelägen an den Wänden“

    Auch Pfarrer Kossen schreibt von Unterkünften in „Schrottimmobilien“, von „oft viel zu kleinen, schlecht belüfteten und mehrfach belegten Zimmern“ mit „nicht selten ausgeprägten Schimmelbelägen an den Wänden, direkt neben den als Betten dienenden Pritschen.“ Sein Bruder Florian Kossen behandele als Allgemeinmediziner tagtäglich Frauen und Männer, die als Arbeitsmigranten in Großschlachtereien beschäftigt seien. „Die Totalerschöpfung dieser Menschen ist die Normalität“, sage der Arzt. „Dazu kommen zahlreiche Schnittverletzungen, aber auch wiederholte und hartnäckige Infekte durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und durch gesundheitswidrige Bedingungen an den Arbeitsplätzen.“

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    Nun könnte man annehmen, dass die Arbeiter die Überbelegung in Kauf nehmen, da sie so Geld sparen, das sie nach Hause schicken oder sparen. Tatsächlich „sind sie auch gar nicht böse“, glaubt Gewerkschafter Singendonk. „Sie wollen günstig wohnen.“ Und nach ihrem harten Arbeitstag kümmere sie die Unterbringung nicht weiter. Er glaubt aber auch: „Sie haben keinen Einfluss auf ihre Unterbringung.“ Das bewegt sich komplett außerhalb des Bereichs, den irgendwer in Deutschland überblickt.“

    Mafiöse Strukturen

    Ähnlich erklärt es der SWR-Journalist Peter: „Die Leute haben im Grunde keine Wahl.“ Die Branche der Subunternehmer arbeite oft mafiös. „Es gibt Leute, die fälschen Pässe. Die betrügen die Arbeiter. Die schlagen sie zusammen. Die bedrohen die Familien.“ Manchmal werde ihnen am Ende des Monats angeblich falsch geschnittenes Fleisch in Rechnung gestellt oder der Transport zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, der doch inklusive sein sollte. Und doch, die 1300 bis 2000 Euro, die sie sich teils mit vielen Überstunden verdienen, seien „verglichen mit dem, was sie in Rumänien verdienen, gutes Geld“.

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    Die Fleischindustrie wehrt sich gegen solche Kritik. „Aus unserer Sicht sind nicht vor allem die Arbeitsbedingungen Schuld an den Corona-Ausbrüchen“, sagte Heike Harstick, Hauptgeschäftsführerin des Verbands der Deutschen Fleischwirtschaft, der „Süddeutschen Zeitung“. Als kritische Infrastruktur habe man die Produktion nicht wie die Autoindustrie einfach stoppen können und weiter gearbeitet, um die Versorgung sicherzustellen. So könne es zu Ansteckungen kommen. Wenn etwa die Einzelunterbringung von Arbeitern vorgeschrieben und höhere Wohnungsmieten verursacht würden, seien „viele Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig“. Teile der Branche würden abwandern, warnt Harstick.

    Das Problem, sagen die Gewerkschaft NGG und der Journalist Adrian Peter unabhängig voneinander, seien tatsächlich nicht die Unterbringung, der Transport oder die Arbeitsbedingungen für sich. „Das Ganze ist das Problem“, erklärt Andreas Singendonk. Man müsse die Praxis der Subunternehmen schlicht verbieten und Leiharbeit so teuer machen, dass sie sich nur in Ausnahmefällen lohnt. „Aber all diese Ausbeutungsverhältnisse sind seit Jahren bekannt und gewollt. Das macht billiges Fleisch.“