Haltern. Fünf Jahre nach dem Absturz der Germanwings-Maschine über den französischen Alpen mit 150 Toten trauern die Angehörigen auch in Haltern allein.

Sie hätten heute wieder dort gestanden, wie schon so oft, am Fuß des Berges, an dem ihre Lieben starben, oder etwas höher, wo die Metallstäbe des Denkmals im Wind singen. Hand in Hand, Arm in Arm, und wenn nicht in Frankreich, dann in Haltern am See, wo die Trauer ebenso zuhause ist. Der fünfte Jahrestag des Absturzes der Germanwingsmaschine ist wieder ein Dienstag. Ein einsamer Dienstag: Die Angehörigen der 150 Todesopfer dürfen in der Corona-Krise nicht zusammen trauern.

Erinnerungen; Josef Cercek mit Tochter Sonja bei deren Hochzeit.
Erinnerungen; Josef Cercek mit Tochter Sonja bei deren Hochzeit. © Privat | Privat

Josef Cercek wäre jetzt dort, wo Flug 4U9525 am Berg zerschellte am 24. März 2015. Weil im Bergmassiv von Le Vernet bestimmt „noch etwas von meiner Tochter“ liegt. „Furchtbar traurig“ findet er, dass sie alle in diesem Jahr nicht an diesen Ort können, wo sie sich ihren Kindern nahe fühlen. „Das Gemeinschaftliche fehlt, man ist für sich allein“, sagt eine Mutter. Die Lufthansa hat Flug und Feier schon in der vergangenen Woche abgesagt, zuletzt brachte sie jedes Jahr rund 300 Angehörige zum Gedenken. Auch die Eltern von Lea und Linda sind schon so oft in die unwirtliche Gegend gereist, „immer wieder“, sagte Lindas Mutter dem WDR, „um endlich zu begreifen, was passiert ist“.

Jemand wird in Frankreich einen Kranz niederlegen

Dass ihre Kinder wirklich tot sind, in den Tod gerissen von dem psychisch kranken Co-Piloten Andreas Lubitz, der das Flugzeug nach allen Erkenntnissen der Ermittler absichtlich in die französischen Alpen steuerte. Am 24. März 2015, morgens um 10.41 Uhr, an Bord 144 Passagiere und fünf Crew-Mitglieder außer Lubitz, Menschen aus 17 Ländern, die meisten aus Deutschland und Spanien, auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. Niemand hat dieses schwerste Unglück in der deutschen Luftfahrtgeschichte überlebt. Wochen dauerte es damals, bis Überreste der Leichen nach Deutschland gebracht wurden, noch länger, bis Familien Pakete bekamen: mit Dingen, die ihren Lieben gehört hatten, Kleider, Fotokameras, einen Ring. Was nicht mehr zuzuordnen war, beerdigten die Franzosen auf einem kleinen Friedhof vor Ort. Dort wird jemand heute einen Kranz niederlegen, allein, in Frankreich herrscht Ausgangssperre.

Vater Josef Cercek zündet eine Kerze an am Grab seiner Tochter

Auch in Haltern werden die Menschen allein trauern müssen. Keine Gedenkfeier am Joseph-König-Gymnasium, das 16 Schülerinnen und Schüler eines Spanischkurses verlor und ihre beiden Lehrerinnen. Josef Cerceks Tochter Sonja war eine von ihnen, in diesem Jahr wäre sie 40 geworden. „Sie sitzt in meinem Herzen“, sagt der 75-Jährige, er trägt seine Tochter bei sich und wäre trotzdem gern heute in Le Vernet. Stattdessen wird er zum Friedhof fahren und eine Kerze anzünden, wie er es mehrmals in der Woche tut, er wird irgendwo Blumen auftreiben, obwohl die Geschäfte ja zu sind. Und er wird sich mit der besten Freundin von Sonja treffen, „das ist das Wenigste“, sagt er und hat doppelt recht, „was man tun kann“.

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Die Familien werden im engen Kreis gedenken. „Mein Kind“, sagt eine Mutter, „fehlt mir nicht nur am 5. Jahrestag, sondern immer.“ Sie werden im Familienkreis zu den Gräbern gehen, das darf man ja, sie werden zusammensitzen und sich erinnern.

Fünf Jahre danach, das sagen viele der Hinterbliebenen, hat sich die Trauer verändert. Sie ist immer noch da, jeden Tag, manchmal ist sie unerträglich, aber sie haben auch gelernt, mit ihr zu leben. Klaus Radner aus Düsseldorf, der seine Tochter und ihre kleine Familie verlor, sagt in der Dokumentation „Menschen hautnah“, er kämpfe immer noch, um jeden Tag auszuhalten, er sei aber „pragmatischer“ geworden. Die Mütter von Linda und Lea aus Haltern erzählen, wie sie das Gefühl begleitet, ihre damals 15-jährigen Töchter seien „erwachsen geworden“. Sie hätten „gelernt, mit unserer Katastrophe umzugehen“. In Lindas Zimmer schläft jetzt der „kleine“ Bruder Christian, der inzwischen 14 ist und sagt, es sei nicht sein Zimmer, „ich benutze es nur“.

Ein Baum als Symbol der Hoffnung und der Liebe

Die Namen der Halterner Opfer und eine schwarze Schleife mit der Flugnummer „4U9525“ sind an der Gedenkstätte auf dem Kommunalfriedhof in Haltern in Stein gemeißelt.
Die Namen der Halterner Opfer und eine schwarze Schleife mit der Flugnummer „4U9525“ sind an der Gedenkstätte auf dem Kommunalfriedhof in Haltern in Stein gemeißelt. © dpa | Marcel Kusch

Josef Cercek kann nach Jahren endlich wieder malen, auch wenn er sich fragt, „für wen eigentlich“. Sie haben ihn oft gefragt, woher er den Lebensmut nimmt, er, der doch schon seine Frau und seine Geschwister verlor. „Ich finde die Kraft in meiner Tochter“, sagt er dann, „sie würde nicht wollen, dass ich an ihrem Tod kaputtgehe.“

In Haltern zünden sie heute Abend Kerzen an, jeder Bürger soll sie möglichst sichtbar ins Fenster stellen, die Kirchenglocken werden läuten. „Rührend“ findet eine Mutter diese Idee. In Gelsenkirchen wartet ein junger Ginkgobaum auf bunte Bänder: Eigentlich wollte die damals eingerichtete Jugendtrauergruppe in Haltern ihn auf dem Marktplatz aufstellen, als Symbol für Freundschaft, Liebe, Hoffnung – nun wartet er beim Institut für Familientrauerbegleitung auf gesündere Zeiten. Und auf Menschen, die Bänder anknüpfen; eine Mutter aus Haltern „bestellte“ am Montag ein rotes, „darüber würde ich mich freuen“.

Anfang Mai soll in Essen der Schmerzensgeld-Prozess beginnen

Mancher wartet auch auf Anfang Mai: Dann soll vor dem Essener Landgericht endlich ein Zivilprozess beginnen. Fast 200 Angehörige haben Germanwings und Konzernmutter Lufthansa auf mehr Schmerzensgeld verklagt, sie argumentieren mit der „Todesangst“ der Passagiere. Die Fluggesellschaft hat bereits abgewunken: Der Flug sei „unauffällig“ gewesen, vom Sinkflug habe man an Bord nichts mitbekommen. Eine „Verhöhnung“ werfen die Hinterbliebenen dem Unternehmen nun vor. Sorgen, dass die Lufthansa durch die derzeitige Krise in Zahlungsschwierigkeiten gerät, haben sie eher nicht. Es geht ihnen weniger ums Geld, „kein Geld der Welt“, sagt Josef Cercek, „gibt mir mein Kind wieder“. Aber sie wollen juristisch geklärt haben, wer Schuld hat. Die Lufthansa, finden sie, weil sie einen psychisch Kranken ans Steuer eines Flugzeugs ließ.

„Ich wäre froh“, sagt Cercek, der zum Prozessbeginn am 6. Mai kommen will, „wenn das endlich vorbei wäre.“

STIMMEN AUS HALTERN ZUM JAHRESTAG
Eine Mutter: „Natürlich sind wir sehr traurig, nicht an diesem besonderen Tag nach Frankreich fliegen zu können, um mit den anderen Angehörigen gemeinsam zu gedenken. Die kleine Ort Le Vernet in Nähe der Absturzstelle liegt uns sehr am Herzen, da wir dort das Gefühl haben, in der Nähe unserer Kinder zu sein.

Andererseits sind wir fast schon etwas erleichtert, nicht den Offiziellen der Lufthansa zu begegnen. Die direkte Begegnung nach den Trauerfeierlichkeiten in der Kirche lässt uns im Vorfeld schon einen Schauer über den Rücken laufen. Die fehlenden Schuldeingeständnisse lassen uns immer wieder aufs Neue erstarren. Wir wünschen uns nur einen Satz der Verantwortlichen: Es tut uns sehr leid, wir haben einen Fehler gemacht.

Sobald es die aktuelle Situation erlaubt, möchten wir die Reise nach Frankreich nachholen und in aller Stille mit unserer Familie unseren Kindern wieder nahe sein.“

Eine Schwester: „Ich finde es richtig, dass es keine Gedenkfeier gibt. Die Regeln sollten für alle Menschen gelten und wenn es keine Ausnahme für Beerdigungen gibt, dann wäre bei uns eine Gedenkfeier im größeren Kreis nicht fair und das falsche Zeichen. Ich denke, im engsten Familienkreis kann man gut gedenken, eine große Feier ist mir persönlich eh nicht so wichtig. Dass heute Abend Kerzen ins Fenster gestellt werden, ist ein gutes Zeichen für das Erinnern, finde ich.“

Eine Mutter: „Mein Kind fehlt mir nicht nur am 5. Jahrestag, sondern immer. Wir werden zum Friedhof gehen, und abends sollen Kerzen in die Fenster gestellt werden. Das finde ich rührend.“

Ein Bruder: „Wir sind natürlich sehr enttäuscht, dass das alles nicht klappt, aber haben natürlich auch Verständnis für die ganze Situation im Moment. Wir werden den Tag als Familie verbringen und zum Friedhof fahren.“

Eine Schwester: „Durch die Situation im Moment ist jeder Tag der gleiche Tag. Man merkt nicht ,ob Wochenende ist und dadurch auch nicht unbedingt, dass der Jahrestag ist. Wir hatten auch am Jahrestag inzwischen eine Routine: morgens der Gottesdienst, danach das Gedenken auf dem Schulhof, das immer sehr bewegend war. Danach sind wir mit der Familie essen gegangen und zum Friedhof natürlich. Davon geht diesmal so ziemlich gar nichts. Wir gehen zu einer Zeit zum Friedhof, wenn dort wenig los ist, wir werden eine Rose hinlegen und Kerzen anmachen, aber man kann im Blumengeschäft ja auch keine tollen Sträuße holen. Und es ist weder Gottesdienst noch Schule.

Das macht es nicht viel trauriger, aber es ist komisch für uns. Weil der Tag dadurch zu einem „alltäglichen“ Corona-Tag wird wie die ganzen anderen. Das ist ziemlich blöd. Alles ist weg, was man an diesem Tag wirklich hätte gebrauchen können.“