Essen. Sex auf Knopfdruck, Hormone, Eizell-Entnahme: Ein Paar berichtet, wie schwer der Weg zum Wunschkind ist – und was es heute anders machen würde.

Stolz wischt Selin (*) über ihr Handy und zeigt den kleinen Elyas einen Tag nach seiner Geburt. Pechschwarze Haare, ein zerknautscht-rosiges Gesicht, die winzigen Hände zu Fäusten geballt: ein gesundes Baby. Am 23. Juni kam er zur Welt, für seine Mutter ist das auch drei Monate später noch ein Wunder. „Manchmal“, sagt die 30-Jährige, „gucke ich ihn an und kann es immer noch nicht glauben. Das ist unser Junge.“ Sechs Jahre lang haben sie und ihr Mann Ahmed (32) versucht, ein Kind zu bekommen. „Zwischendurch wollte ich, dass sich mein Mann eine andere Frau sucht“, erinnert sich Selin und die fröhliche Frau mit den wilden Locken senkt ihre Stimme: „Ich wollte nicht Schuld sein, dass er keine Kinder hat. Er wollte doch immer so gern Papa werden.“

Dabei meint es das Schicksal zunächst gut mit den beiden: 2008 lernen sich Selin und Ahmed in der Türkei kennen. Die Essenerin macht Urlaub in der Heimat ihrer Eltern „Das war recht spontan, ich bin für eine Verwandte eingesprungen, die ihren Flug kurzfristig absagen musste“, sagt Selin. Sie mag Ahmed von Anfang an, der Beginn einer tiefen Freundschaft. Die beiden schreiben sich Briefe – auch lange, nachdem Selin zurück in Deutschland ist – und verlieben sich schließlich. 2010 geben sie sich das Ja-Wort, Ahmed zieht nach Essen. Anfangs geht es den beiden wie vielen Paaren: „Wir sind viel gereist, außerdem wollte ich beruflich weiterkommen. Das Kinder-Thema kam erst 2013 zum ersten Mal auf“, weiß Selin noch.

Zykluskalender, gesunde Ernährung, Sex auf Knopfdruck: all das half nicht

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Bei ihrer Schwester hatte es auf Anhieb geklappt, entsprechend sorglos geht Selin das Thema an: „Nach ein paar Monaten hatte ich dann aber das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmt“, sagt sie heute. Sie beginnt damit, einen Zykluskalender zu führen und kennt ihre fruchtbaren Tage bald sehr genau. Beide stellen ihre Ernährung um, versuchen zig homöopathische Mittel, die allesamt nicht halten, was sie versprechen. Der ersehnte zweite Strich auf dem Schwangerschaftstest bleibt aus. „Wir waren irgendwann wie Roboter. Mit Romantik hatte das nichts mehr zu tun, wenn ich gesagt habe: Wir müssen heute wieder, ich bin fruchtbar“, sagt Selin.

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Sie versucht es bei mehreren Frauenärzten, bekommt zunächst Hormone verschrieben. Selin nimmt zu, ist zwischenzeitlich depressiv, liegt auf dem Sofa und will niemanden sehen: „Ich hatte eine Phase, da konnte ich nicht an einem Spielplatz vorbeigehen. Manchmal war es so schlimm, dass ich nur beim Anblick meiner Nichte angefangen habe zu weinen.“ Familienbesuche werden mehr und mehr zur Belastungsprobe. Die von freundschaftlichem Schulterklopfen begleitete Frage, wann es bei ihnen denn endlich soweit sei, bereitet den beiden immer größere Schmerzen. „Meine Familie in der Türkei weiß bis heute nichts von dem schweren Weg, der hinter uns liegt. Von der künstlichen Befruchtung und all dem. Wir wollten sie damit nicht belasten“, sagt Ahmed.

„Ich hatte Angst vorm Ohrloch-Stechen – jetzt musste ich mir täglich Hormone spritzen“

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Im Jahr 2015 sucht das Paar zum ersten Mal Hilfe im Essener Kinderwunschzentrum Novum. Ein Urologe hatte zu diesem Zeitpunkt bereits abgeklärt, dass Ahmed problemlos ein Kind Zeuge könnte. Selin fühlt sich schuldig. „Wahrscheinlich sind die Schwierigkeiten bei mir genetisch bedingt, ganz genau konnte mir das bis zum Schluss niemand sagen“, bedauert sie und sagt auch: „Ich würde mir heute viel früher den Rat von einem Experten auf dem Gebiet einholen und nicht erst willkürlich von Arzt zu Arzt rennen.“

Die temperamentvolle Frau will nichts unversucht lassen und nimmt für ihren Traum vom Kind vieles in Kauf: „Ausgerechnet ich, die sogar Angst vorm Ohrloch-Stechen hatte, musste mir auf einmal täglich selbst Hormone spritzen“, überspielt sie die hinter ihr liegende Tortur mit Humor. Mehr als 800 Euro muss das Paar allein für die Präparate in Vorleistung gehen. Trotz voller Rückerstattung – ihre Krankenkasse DAK übernimmt die Kinderwunschbehandlung zu 100 Prozent – eine schwierige Belastung: zumal Selin durch die Eingriffe immer mehr Krankentage anhäuft und schließlich ihren Job verliert.

Künstliche Befruchtung: „Das klingt erstmal harmlos, tut aber höllisch weh“

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Zunächst versuchen es die beiden mit der sogenannten Insemination. Dabei wird der Samen vor den Gebärmutterhals injiziert. Acht Versuche zahlt ihre Krankenkasse. Zwei Mal glückt die Verschmelzung zwar kurzfristig, die befruchtete Eizelle reift aber nicht zum Kind heran.

Selin und Ahmet sind einmal mehr am Boden zerstört. Sie versuchen es dennoch weiter, diesmal mit der deutlich kostspieligeren ICSI – kurz für intrazytoplasmatische Spermieninjektion. Drei solcher Eingriffe werden bezahlt. Dafür wird Selins Eizelle entnommen, der Samen ihres Mannes injiziert und schließlich wieder in die Gebärmutter eingesetzt: „Das klingt erstmal harmlos, tut aber höllisch weh, ich habe mich vor Schmerzen gekrümmt. Und ich hatte alle sechs Monate eine Vollnarkose, zwei Jahre lang“, sagt Selin.

„Nur noch dieser eine Versuch, danach ist Schluss“

Im vergangenen Februar zieht ihr Mann die Notbremse. „Ich will nicht, dass du das weiter über dich ergehen lässt und immer weinst. Nur noch dieser eine Versuch, danach ist Schluss“, sagt er zu seiner Frau. Zeitgleich verkündet sein Bruder in der Türkei, dass er Vater wird. „Natürlich haben wir uns gefreut. Gleichzeitig habe ich so geweint, weil es sich so ungerecht anfühlt“, sagt Selin.

Sie sucht beruflich einen Neubeginn, fängt mit einer Umschulung an. Die angehende Industriekauffrau sitzt gerade in der Berufsschule, als ihr Handy klingelt. Eine schnell sprechende Frauenstimme verkündet ihr, sie müsse ab sofort auf rohe Lebensmittel verzichten, Selin sei schwanger. Der Novum-Mitarbeiterin liegen die Ergebnisse des Bluttests vor, der nach jeder Kinderwunsch-Behandlung Standard ist. „Ich habe so laut auf dem Schul-Flur geschrien, das war ein unglaubliches Gefühl“, erinnert sich Selin.

Der kleine Elyas ist nur wenige Tage jünger als sein türkischer Cousin. Den lernt er aber erst im nächsten Jahr kennen – fürs Reisen ist Selin noch nicht bereit, genießt die Zeit mit ihrer kleinen Familie lieber zu Hause. Sie hat lange darauf warten müssen.

(*) auf Wunsch der Familie haben wir alle Namen geändert.